Siegfried Niese

Georg von Hevesy

EINLEITUNG

Georg von Hevesy (1885-1966) - Wissenschaftler ohne Grenzen

Beim Betreten einer Nuklearmedizinischen Klinik werden wir möglicherweise auf Georg von Hevesy aufmerksam. Sei es, weil eine Station wie in Freiburg oder Münster seinen Namen trägt, weil der Direktor der Klinik oder einer seiner Ärzte eine Hevesy-Medaille oder einen Hevesy-Preis erhalten haben, oder weil an einer Anschlagtafel eine nach Hevesy benannte Gesellschaft für Nuklearmedizin auf eine Veranstaltung hinweist. Auf diese Weise wird der Leser vielleicht das erste Mal mit dem Vater der Nuklearmedizin Georg Karl von Hevesy (1885-1966) bekannt, der im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges, im Dezember 1944 in Stockholm den Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1943 erhalten hat, und zwar für die Erfindung der radioaktiven Indikatoren und deren breite Einführung in Biochemie und Medizin.

In genialer Voraussicht für die in der Isotopie liegenden Möglichkeiten hat er mit originellen und bahnbrechenden Beispielen ein breites Anwendungsfeld für die radioaktiven und stabilen Isotope erschlossen und für die Medizin einen neuen Zweig der Diagnostik geschaffen. Die Isotope ermöglichten in der biochemischen Forschung, der medizinischen Diagnostik und in anderen Zweigen von Wissenschaft und Technik Untersuchungen, die vorher undenkbar waren. Viele Wissenschaftler, deren Entdeckungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt wurden, benutzten bei ihren Experimenten die von Hevesy entwickelte Indikatormethode. So ist allein schon sein Beitrag zur Biochemie und zur Medizin Grund genug für den Wunsch, sein Leben und Wirken näher kennenzulernen.

Von Hevesy stammen aber noch weitere bedeutende Entdeckungen auf verschiedenen Fachgebieten. Für die 1922 erfolgte Entdeckung des bis dahin unbekannten chemischen Elementes Hafnium wurde er seit 1924 mehrfach für den Nobelpreis nominiert. Besonders bekannt wurde er auch durch die Entdeckung der Neutronenaktivierungsanalyse, mit deren Hilfe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Analytiker bei der Spurenbestimmung der Elemente zu extrem niedrigen Konzentrationen vordringen konnten. Damit ist die Liste seiner bedeutenden Entdeckungen und Erfindungen, die den Fachgebieten Physikalische Chemie, Anorganische Chemie, Radiochemie, Geochemie, Biochemie, Zellbiologie, Strahlenbiologie und Medizin zuzuordnen sind, längst nicht erschöpft. Er berschritt bei seinen Forschungen immer wieder die Grenzen der Fachdisziplinen, deren aktuellen Wissensstand er sehr genau kannte und durch eigene Beiträge bereicherte. Auf allen diesen Gebieten fand er Gesprächs- und Kooperationspartner, Kollegen und Freunde.

Hevesy überschritt immer wieder teils freiwillig, um mit Kollegen gemeinsame Arbeiten durchzuführen oder um sich zu erholen, teils unfreiwillig, weil ihm in dem jeweiligen Land die Existenzgrundlage entzogen worden war, die Grenzen der Länder, in denen er lebte, studierte, forschte und lehrte. In Budapest war er aufgewachsen und hatte mit dem Studium begonnen, das er in Berlin fortsetzte und in Freiburg i. Br. abschloss. Er forschte anschließend in Zürich, Karlsruhe, Manchester, Wien und Budapest, wo er 1920 nach dem Sturz der Ungarischen Räterepublik, kurz nach seiner Ernennung zum Professor sein Amt aufgeben musste. Sein Weg führte ihn weiter über Kopenhagen, wo er das Hafnium entdeckte, nach Freiburg, wo er 1926 bis zu seiner 1934 erneut erforderlich gewordenen Emigration nach Kopenhagen als Ordinarius für physikalische Chemie wirkte. In Freiburg hatte er mit seiner Anstellung unter Beibehaltung seiner ungarischen Staatsbürgerschaft auch die badische erhalten. Als der Plan der deutschen Besatzungsmacht in Dänemark, die Juden zu deportieren, bekannt wurde, flüchtete er von Dänemark nach Stockholm. Nach der Auszeichnung mit dem Nobelpreis nahm er das Angebot der schwedischen Regierung auf Übernahme der schwedischen Staatsbürgerschaft an. Als seine Erkrankung für ihn immer belastender wurde, begab er sich in Freiburg in ärztliche Behandlung, wo er am 5. Juli 1966 verstarb und am 9. Juli begraben wurde. Im April 2001 wurde die Grabstätte in Freiburg aufgelöst und seine sterblichen Überreste auf dem Nationalfriedhof in Budapest beigesetzt.

Es ist bewundernswert, wie er nach der Flucht aus einem Lande, in welchem er für seine wissenschaftliche Arbeit ein Labor oder gar ein Institut eingerichtet hatte, auch an dem neuen Ort, mit einem neuen Umfeld, in einem mit anderen Geräten ausgerüstetem Labor, auf einem neuen Arbeitsgebiet, mit beschränkten finanziellen Mitteln, meist ohne eine feste Anstellung, gemeinsam mit neuen Kollegen, immer wieder bedeutende Entdeckungen machen konnte. Solche Umstellungen konnten ihm nur dank seiner umfangreichen Kenntnisse in vielen Wissenschaftsdisziplinen, seiner genialen Voraussicht über die Entwicklung des Wissens und mit äußerster Willensanstrengung gelingen. An seinen Arbeitsstätten warb er Mittel und Stipendien ein, schuf Arbeitsmöglichkeiten und hinterließ, wenn ihn die politischen Umstände zum Verlassen des Landes bewogen, seinen Nachfolgern gut eingerichtete Labors.

Es soll noch erwähnt werden, dass er auch die Grenzen der Religionen überschritt. Seine Vorfahren waren gläubige Juden und genossen hohes Ansehen in der jüdischen Gesellschaft in Ungarn. Während Hevesy das Gymnasium des katholischen Piaristenordens in Budapest noch als Angehöriger der jüdischen Glaubensgemeinschaft besuchte, trat er später zur katholischen Kirche über.

Hevesy lebte in Europa im Jahrhundert der Weltkriege und Revolutionen. Staaten zerfielen, neue wurden gebildet und Ländergrenzen wurden verschoben. Seine Eltern waren am Anfang des 20. Jahrhunderts wohlhabend und geachtet. Nachdem sie schon nach dem 1. Weltkrieg Fabriken und Ländereien verloren hatten, wurde im Ergebnis des 2. Weltkrieges nach der Eingliederung Ungarns in den Herrschaftsbereich der Sowjetunion der Besitz der Familie enteignet. Während seiner Ausbildung und am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn brauchte sich Hevesy nicht die geringsten finanziellen Sorgen zu machen, dagegen musste er sich später umso intensiver um die Bezahlung seiner Arbeit und die finanzielle Versorgung seiner Familie bemühen. Seine Professur in Freiburg i. Br. stellte die einzige länger währende feste Anstellung dar, aus der sich nach dem 2. Weltkrieg im Rahmen einer Wiedergutmachung auch Pensionsansprüche ergaben.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts blühten Naturwissenschaft und Technik in Deutschland, und der deutsche Sprachraum wurde zu einem bedeutenden geistigen Zentrum. Zu den bekanntesten Naturwissenschaftlern jener Zeit gehören Max Planck, Albert Einstein, Marie Curie, Ernest Rutherford, Niels Bohr, Otto Hahn und Lise Meitner, deren Biografien in Bibliotheken und vielen häuslichen Bücherregalen einen Platz gefunden haben und deren Namen Institute, Schulen und Straßen tragen. Hevesy war mit vielen bedeutenden Wissenschaftlern seiner Zeit bekannt und zum Teil sehr eng befreundet. Er besuchte sie in ihren Laboratorien, traf sie auf Konferenzen, verbrachte gemeinsame Urlaubstage mit ihnen, arbeitete mit ihnen zusammen und korrespondierte mit ihnen. Sein intensiver und von lebendigen Darstellungen gekennzeichneter Briefwechsel ergänzt den starken Eindruck, den man von seiner Persönlichkeit nach dem Studium seiner Bücher und Veröffentlichungen hat. Dabei war es sein überaus höfliches Wesen, was ihn oft veranlasste, dem Partner reichlich Lob zu spenden und Kritik zu meiden.

Faszinierend war sein ungeheurer Arbeitswille, sein geniales Erfassen oder gar Erfühlen der Gesetzmäßigkeiten beim Aufbau von Atomen, Atomkernen, des Kosmos und des lebendigen Organismus sowie seine Fähigkeit, mit sehr einfachen Mitteln Experimente mit hohem Aussagewert durchzuführen.

Er lebte und wirkte einen großen Teil seiner Zeit im deutschen Sprachraum, schrieb viele seiner Artikel, Bücher und Briefe in deutscher Sprache und nannte Freiburg und den Schwarzwald mehrfach seine Heimat und seine liebsten Orte. Er schrieb seinen Namen im deutschen Sprachraum Georg von Hevesy, während er in Ungarn und in seinem ungarischen Pass Hevesy György und im englischen und skandinavischen Sprachraum, so in der Urkunde zum Nobelpreis und dem schwedischen Pass, George de Hevesy hieß. In der zweiten Hälfte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit verfasste er die meisten Arbeiten in Englisch. Daneben finden wir eine Anzahl wissenschaftlicher Publikationen in Ungarisch, Dänisch, Schwedisch und Französisch.

Hevesy hat selbst keine ausführliche Autobiografie geschrieben. In den als Einleitung zu einem Sammelband seiner Veröffentlichungen von ihm verfassten autobiografischen Notizen schreibt er über die Abschnitte seiner wissenschaftlichen Laufbahn und über die Kollegen, die er getroffen hat. Wir finden jedoch kaum etwas über sein privates Leben und das seiner Familie. Bemerkenswert ist, dass er in die Aufzeichnungen, die er dem englischen Physiker Cockcroft als Vorlage für einen Nachruf zur Verfügung stellte, eine große Zahl Anekdoten eingeflochten hat, in denen er Personen und Zustände seiner Zeit mit wenig Worten einprägsam charakterisierte. Er hat diese vielleicht nicht ganz den Tatsachen entsprechenden Geschichten auch seinen Kindern und Freunden oft erzählt und so sind sie ihnen auch im Gedächtnis geblieben. In den vielen Briefen an seine Freunde schrieb er, was er gerade getan oder gedacht hatte und was seine nächsten Pläne waren. So lesen sich seine Briefe wie ein Tagebuch.

Auch wenn sich Hevesy über seine Familie nur gelegentlich in Briefen äußerte, verspürte man aus ihnen, dass er sehr eng mit seinen Eltern, Geschwistern und Kindern verbunden war. Er kam häufig nach Budapest und auf den Landsitz seiner Eltern nach Tapio-Sap, ließ sich bei Besuchen wissenschaftlicher Veranstaltungen und bei Urlaubsreisen von seiner Frau und oft auch von seinen Kindern begleiten und verband später auch manchen Tagungsbesuch mit einem Besuch seiner Kinder.

Schon das wenige, was wir über seine Herkunft wissen, vermittelt uns einen Eindruck davon, wie dieser großartige Wissenschaftler in einer langen Tradition entwickelte Fähigkeiten und Eigenschaften in sich vereinigt. Er gehörte zu jener Gruppe bedeutender Gelehrter, deren nach Ungarn eingewanderte jüdische Vorfahren trotz eines geringen zahlenmäßigen Anteils an der Bevölkerung über mehrere Generationen hinweg entscheidend das Tempo der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung Ungarns mitbestimmt haben. Diese großen Leistungen zu ihren und ihrer Landsleute Nutzen erbrachten sie, weil sie in ihrem Leben der Bildung einen hohen Stellenwert gaben, ständig aktiv blieben und immer bereit waren, Grenzen zu überschreiten. Als ihre Wirkungsmöglichkeiten im 20. Jahrhundert in Ungarn eingeschränkt wurden, arbeiteten sie in Deutschland und leisteten nach ihrer Emigration, die die meisten von ihnen in die USA führte, dort einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Kultur. Wir werden Georg von Hevesy als einen bedeutenden Wissenschaftler und erfolgreichen Repräsentanten einer dieser äußerst aktiven Familien kennenlernen.

1985 erschien eine Biografie über Hevesy in englischer Sprache, in der wir mit der Vielfältigkeit seiner Entdeckungen, seinem Leben und seinem Wirken vertraut gemacht werden. Sie wurde von der Physikerin Hilde Levi geschrieben, die unmittelbar nach ihrer Anfang 1934 in Berlin erfolgten Promotion nach Dänemark emigrierte. Sie war viele Jahre Assistentin von Hevesy und hat nach ihrer Pensionierung im Niels-Bohr-Archiv seinen Nachlass gesammelt. Die aus ihrem direkten Erleben geschriebene Biografie ist sehr persönlich gehalten und gibt besonders Hevesys Wirken in Dänemark und Schweden in der Zeit nach 1934 und die Stimmung unter den damaligen Mitarbeitern in dem von Niels Bohr geleitetem Institut wieder. Hilde Levi selbst hatte wenig Verständnis dafür, dass Hevesy nach dem 2. Weltkrieg noch Freiburg als seine Heimatstadt betrachtete. In einer in ungarischer Sprache geschriebenen Biografie von Gabor Pallo wird besonders auf seine Beziehung zu Ungarn und seine ungarischen Mitarbeiter und Kollegen eingegangen; eine kleinere Arbeit von Kovacz zeichnet sich besonders durch interessante Bilder aus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Hevesy in Ungarn auf vielfältige Weise geehrt. An verschieden Orten wurden Büsten und Gedenktafeln aufgestellt oder angebracht. Zu seinem 100. Geburtstag trugen prominente Wissenschaftler auf einem Festkolloquium in Budapest vor. Auf Initiative der Ungarischen Akademie der Wissenschaften fand 2001 auf dem Budapester Nationalfriedhof ein feierliches Zweitbegräbnis statt, an dem auch alle Kinder von Georg von Hevesy teilnahmen.

Nach dem Studium der Chemie war ich im Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf bei Dresden von 1956 bis 2000 auf Arbeitsgebieten tätig, die von Hevesy begründet oder gefördert worden waren. Begünstigt durch eine langjährige, besonders gute wissenschaftliche Zusammenarbeit und durch freundschaftliche Beziehungen zu den ungarischen Kollegen, wuchs mein Interesse an der Person Hevesy und die Bewunderung seiner Leistung.

Die Entscheidung, diese Biografie zu schreiben, fiel mir leichter, nachdem mir Prof. Dr. Holger Fischer von der Universität Hamburg anbot, im Rahmen des Projektes des Bundesministeriums für Bildung und Forschung "Auswirkung der deutsch-ungarischen Wissenschaftsbeziehungen der Neuzeit auf die Modernisierung von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft", für einen dritten Sammelband einen Aufsatz über Georg von Hevesy zu schreiben und mir Reisemittel für den Besuch von Archiven und Veranstaltungen zur Verfügung stellen konnte. Während dieser Arbeit entschloss ich mich, weiteres Material für eine Biografie zu sammeln. Ursprünglich wollte ich mich auf eine Übersetzung des Buches von Hilde Levi und eine Ergänzung9 über sein Leben und Wirken in Deutschland beschränken. Nachdem ich seine Briefe gelesen und mich mit Hilde Levi und den Kindern von Hevesy unterhalten hatte, eröffnete sich mir eine etwas andere Sicht und ich fühlte mich ermutigt, diese Biografie zu schreiben.

Seine meist handgeschriebenen Briefe zeigen so viel von seinem Wesen und seinem Engagement, dass ich es für richtig hielt, sehr viel Text aus ihnen wörtlich zu übernehmen und dabei keine sprachlichen oder grammatikalischen Veränderungen in den ausgewählten Zitaten vorzunehmen.