Doro Mayer-Hauth

Wer zu spät kommt...


Teil 3

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Aber dann rollten die ersten Trabis gen Westen und die Vergangenheit kam auf Tuchfühlung. Merkwürdig genug flimmerte sie über die Mattscheibe in die Wohnung von Sina und ihrem zwölfjährigen Sohn.

Ihr Fernsehgerät war nicht in Ordnung, und sie hatte bei Arno unten angerufen und ihn gebeten, der Bildstörung nachzugehen. Während er nun die Verkabelung überprüfte und zwischen den Sendern hin und her schaltete, war auf allen Kanälen plötzlich das Gleiche zu sehen. Bilder von der Erstürmung des Brandenburger Tores, aufgebrachte Gestalten, vor Freude schier fassungslose Gesichter, Münder, die völlig unsortierte Sätze in die Mikrofone der Journalisten brüllten, tanzende, wogende Menschenmassen und wieder und wieder der Exodus der Männer, Frauen und Kinder, die sich in hupenden Autokolonnen aufgemacht hatten, ihrem Staat endgültig den Rücken zuzukehren.

Das Schauspiel wurde von der Störung unterbrochen, die in regelmäßigen Abständen von links nach rechts quer über den Bildschirm lief und die Umrisse der Personen und ihrer Umgebung wie in Schlangenlinien seltsam verzerrt wiedergab. Arno sah ein, dass er mit seinem Latein am Ende war, und wollte ausschalten. Sina schüttelte den Kopf. »Lass mal«, sagte sie und starrte wie gebannt auf den Bildschirm.

Sie schien gar nicht hinzuhören, als Arno ihr anbot, mit nach unten zu kommen, um sich die Übertragung bei ihm in normaler Bildqualität anzusehen. Er wollte runtergehen in seine Wohnung, weil er ihr ohnehin nicht helfen konnte, weder mit dem schlechten Empfang, noch mit dem, was da auf dem Bildschirm unwiderruflich zerplatzt war für sie.

Da muss sie alleine durch, jedenfalls erst mal, dachte er und stand in der Tür, als Hannes auftauchte und vom Flur aus wissen wollte, ob der Fernseher inzwischen in Ordnung sei. In seinen Trainingsklamotten blickte er kurz um die Ecke, schon bereit, wie üblich über das veraltete Gerät zu lästern, als er wie angewurzelt stehen blieb und langsam näher kam.

»Was ist denn das?«

»Die Grenze ist offen und jetzt kommen die aus der DDR in den Westen«, antwortete Arno.

»Alle?«, wollte der Junge wissen.

»Nä«, flachste Arno, »das wär ja ein bisschen viel.«

»Dann könnte es doch sein, dass da in irgendeinem Trabi...« Hannes stockte und starrte wie gebannt auf die Autokarawane, die sich gerade doppelt schlangenförmig über den Bildschirm wand. »Ich meine, vielleicht kommt jetzt auch mein Vater zurück!«

Das brachte Sina zur Besinnung. Sie erwachte aus ihrer Trance und ging auf das Gerät zu. Hannes kam ihr zuvor und stellte sich dazwischen.

»Vielleicht in dem... oder in dem... oder dem«, insistierte er und zeigte auf die Wagen, die wie verzerrte Streichholzschachteln auf Rädern aussahen.

»Hannes, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du auf dem Holzweg bist. Dein Vater hat uns verlassen und sich zwölf Jahre lang nicht gemeldet. Und das wird sich auch nicht mehr ändern. Wahrscheinlich hat er längst eine Familie gegründet. Auf jeden Fall wollte er nichts mehr von uns wissen. Warum sollte er dann plötzlich Sehnsucht haben.«

»Es ist ja nicht auszuschließen, dass er mich jetzt sehen will«, beharrte Hannes und stellte sich direkt vor den Apparat, sodass zumindest für einen Moment die Schlangenlinien fast abgedeckt waren und nur der euphorische Ton des Kommentators zu hören war.

»Könnte doch sein«, bekräftigte der Junge und blickte seine Mutter trotzig an.

»Was soll das?«, fragte Sina und wollte ihn beiseiteschieben, um den Apparat auszuschalten. Hannes machte sich steif und wich nicht zur Seite.

»Willst du denn kein bisschen wissen, was aus ihm geworden ist?«, vergewisserte er sich. »Vielleicht denkt er, dass du nicht mehr so sauer wie früher auf ihn bist... könnte doch sein.«

Er schob den Ärmel seiner türkisfarbenen Trainingsjacke hoch und fing an, sich am Arm zu kratzen, wo die rötlich verschorften Spuren eines abklingenden Hautausschlags zu sehen waren. Neurodermitis. Sina war deswegen mit ihm schon bei verschiedenen Hautärzten gewesen, die sie mehr oder weniger darauf vertröstet hatten, dass die Krankheit während der Pubertät nachließe. Ganz so weit war aber der Junge noch nicht. Immerhin kam und ging der Ausschlag nicht mehr so häufig wie in den ersten Jahren seines Lebens.

»Lass das«, mahnte Sina und griff nach seiner Hand.

Hannes hörte auf am Schorf zu pulen, ließ aber nicht locker. »Du kannst schließlich nicht ewig wütend auf ihn sein, nur weil er damals in den Osten ist.«

»Das war absolut nicht der Grund«, entgegnete Sina, schob ihn nun einfach aus dem Weg und schaltete entnervt das Gerät aus.

»Was denn dann?«, fragte Hannes, ging zum Fernsehsessel und ließ sich mit seinen verdreckten Klamotten hineinfallen. Statt des Bildschirms hatte er nun seine Mutter im Visier und seine Augen wurden ganz schmal dabei. Die Ähnlichkeit mit Sinas prüfendem Blick war unverkennbar.

»Ist er wegen einer anderen Frau weg? Wegen dieser Marie?«

»Marie, welche Marie?«, fragte Sina überrascht. »Meinst du Marie Neugebauer?«

»Weiß nicht«, räumte Hannes ein, fingerte seine Schuhlaschen auf und schob sich die Adidas von den Füßen. Sina sagte nichts dazu, obwohl sie ihn normalerweise dafür gerügt hätte, dass er seine schmutzstarrenden Laufschuhe nicht im Flur ausgezogen hatte.

»Wie kommst du überhaupt auf den Namen?«

»Ihr habt mal etwas von einer Marie erzählt, als Arno erklärte, der Jablonski wär jetzt im Busch«, antwortete Hannes, entledigte sich seiner Socken und bewegte seine Zehen auf und ab. Missmutig starrte er seine Schuhe an. Ganz offensichtlich waren sie noch nicht richtig eingelaufen, aber bereits über und über verdreckt vom Matsch im Innocentia Park, wo er mit anderen Jungs gekickt hatte.

»Du meinst, damals auf dem Rückweg aus dem Hunsrück«, schaltete sich Arno ein. »Wundert mich, dass du das überhaupt behalten hast.«

Er machte eine Pause und blickte Sina an. »Nein, Hannes«, versicherte er, »die hatte damit nichts zu tun. Sina war nur verletzt, weil sie schwanger von ihm war.«

Hannes versuchte, den verkrusteten Matsch an seinen Schuhen mit den Zehen abzuschaben. Er schien zu überlegen.

»Dann ist mein Vater abgehauen, weil er mich nicht wollte«, stellte er fest und schob seine Schuhe von sich weg, als hätte er plötzlich die Sinnlosigkeit seiner Tätigkeit eingesehen.

Sina stand für einen Moment nur da und starrte auf die Schmutzteilchen auf ihrem neuen Teppich. Dann bückte sie sich, klaubte sie vom Boden auf und ließ sie in den metallenen Papierkorb am Fenster fallen. Es gab ein schepperndes Geräusch. Zögernd näherte sie sich dem Sessel, in dem der Junge saß, und strich ihm übers Haar.

»Hannes«, sagte sie, um Festigkeit bemüht, »dein Vater kam weder mit sich noch mit seinem eigenen Vater klar. Und mit vielen anderen Leuten auch nicht. Dann hat er einen Unfall gebaut und Fahrerflucht begangen, und irgendwie ist ihm alles über den Kopf gewachsen. Da hat er sich einfach abgesetzt.«

»Vielleicht hat er sich’s ja jetzt anders überlegt«, beharrte Hannes und wehrte ihre Hand ab, indem er den Kopf unwillig zur Seite drehte.

»Ich will ihn aber nicht sehen«, stieß Sina hervor und kehrte sich abrupt von ihm ab, »verstehst du?«

»Nein«, erwiderte Hannes und lief barfuß aus dem Zimmer. Seine Socken und die verdreckten Schuhe ließ er liegen.

Sina eilte zur Tür und schien ihn zurückrufen zu wollen, besann sich im letzten Augenblick, nahm verärgert die Sachen vom Teppich und brachte sie nach draußen.

Arno stand beklommen auf der Türschwelle und blickte auf den stummen Apparat, als wenn von dort eine Antwort auf all das zu erwarten wäre, was sich mit dem Zusammenbruch einer ganzen Gesellschaftsordnung über Nacht zurückgemeldet hatte.

Die Lüge, die sie gemeinsam etabliert hatten, war bedroht. Mit der Zeit hatte sie es sich gemütlich gemacht und manchmal war es geradezu so gewesen, als hätte die Existenz, die der Junge dem fiktiven Vater angedichtet hatte, reale Züge angenommen. Auch in Arnos Hirn. Stillschweigend hatte er sich zu Sinas Komplizen gemacht, obwohl ihrem Schweigen keinerlei Absprache zugrundelag. Nie hatten sie sich darüber weitergehend verständigt, es hatte lange Zeit eben sein Bewenden gehabt. Einfach so.

Aber urplötzlich meldete sich in Arno der Verdacht zurück, dass das Gebäude, das Sina aufgebaut und das er ohne zu widersprechen mitgetragen hatte, von akuter Einsturzgefahr bedroht war. Sei es, dass der Junge nicht nachlassen würde zu bohren, oder sei es, dass seine eigene Rolle als Mitwisser ihm zunehmend zum Verhängnis wurde. Arno hatte ein ungutes Gefühl.