Christa Feuerbacher

Die Kolonie

1.


Ich bin Lena Kappler.
Ich bin am Leben.
Ich bin alleine.
Ich alleine lebe noch.
Wie soll ich mit diesem Wissen leben?

Ich habe versagt. Ich habe den Tod der Bewohner Bachweilers überlebt. Darin liegt mein Versagen. Gewissenhaft hielt ich mich an die Anweisung, die lautete: Die Existenz der Gemeinschaft darf nicht gefährdet werden.

Nach dem Gesetz bin ich nicht schuld an ihrem Tod. Dennoch muss ich mich verstecken.

Man wird keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung finden, daher könnte sich sehr bald der Verdacht aufdrängen, dass es sich um eine unbekannte Seuche handeln musste. Man wird nach Überlebenden fahnden.

Einerseits können nur sie den wahren Sachverhalt der Vorgänge bezeugen, andererseits müsste man sie als mutmaßliche Überträger dieser Seuche aufspüren und absondern.

Ich, die einzige Überlebende, verweigere die Aussage!

Zusammen mit den anderen habe ich für das Experiment gestimmt. Es war sorgfältig geplant, seine gefahrlose Durchführbarkeit Bedingung. Als ich die Bedrohung erkannte, war ich nicht stark genug, sie mit mir zurückzureißen.

Ich war dabei als Sonja starb, meine liebenswerte, meine schöne, meine gebildete Tochter. Ich erlebte mit ihr, wie sich dieses Etwas gleich einer schweren, glatten Metallkugel in ihrem Schädel direkt hinter dem linken Ohr aufzublähen begann. Es breitete sich aus, berührte den Ansatzpunkt der Wirbelsäule, dehnte sich zu einem dünnwandigen, harthäutigen Ballon bis es den ganzen Kopf ausfüllte und dann zerbarst. Seine scharfkantigen Bruchstücke zerfetzten Gefäße, zerschnitten Gedanken, zerstörten ihr Leben. Ich brüllte, ich schrie immer wieder: "Tu’s nicht, nein, tu’s nicht."

Die Gehirntätigkeit aller Mitglieder erlosch, das weiß nur ich, denn ich war dabei, am 5. Oktober um 17 Uhr 32, worauf die Versorgung der Körperorgane nicht mehr gewährleistet war und der Tod eintrat.

Ich tat, was getan werden musste. Ich habe bei den zuständigen Stellen anonym Mitteilung gemacht und mich daraufhin vom Ort des Geschehens entfernt.

Jetzt bin ich auf mich selbst gestellt.

Das Denken, so ganz ohne die Hilfe der anderen, fällt mir schwer.

Mir ist kalt.

*

Ohne viel Zeit zu verlieren verließ ich Deutschland auf dem Schienenweg und habe in der Anonymität einer europäischen Großstadt fürs Erste Ruhe gefunden, zumindest was meine äußerlichen Verhältnisse angeht.

Alles in dieser Wohnblocksiedlung widerspricht meinen ureigensten Bedürfnissen, meinem Sinn für Ästhetik, meiner Sehnsucht nach freier Natur oder auch nur den einfachsten hygienischen Anforderungen an meine häusliche Umgebung. Ich hoffe jedoch, dass all dies die Suche nach mir beträchtlich erschweren wird.

Nirgends lässt es sich besser untertauchen als in einer Menge. Daher habe ich auch meinen ersten, spontanen Impuls wieder verworfen, mich in den bewaldeten Grenzregionen im östlichen Teil unserer Republik zurückzuziehen. Nach dem Verschwinden von Mauer und Todesstreifen sind sie plötzlich in die Mitte des europäischen Interesses gerückt und ihre Bewohner bekunden den neuen Zusammenhalt, indem sie das Tagesgeschehen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen.

Je kleiner das Kaff, umso auffälliger ist dort jedes neue Gesicht. Jeder weiß mehr von jedem als diesem lieb ist, jede Veränderung bildet unweigerlich Gesprächsstoff an Stammtischen und Gartenpforten. Das Leben, selbst in den armseligsten Gegenden unseres Landes, kann niemals so hart sein und die Menschen so sehr fordern, dass sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigen. Dazu kommt, dass auch in den abgelegensten Tälern und in den armseligsten Bruchbuden Satellitenschüsseln täglich für die Übermittlung der neuesten und letzten Informationen sorgen. Der Grund für meine Anwesenheit bliebe nicht lange unentdeckt.

Noch während der Zug durch die nächtliche Landschaft Richtung Westen rollte, klärte sich die Frage meiner zukünftigen Bleibe.

Wenige Kilometer hinter Aachen betrat eine dunkelhäutige Frau, ungefähr in Sonjas Alter, mit viel Getöse das Abteil, das sie wohl für leer gehalten hatte. Mit einer energischen Bewegung entledigte sie sich eines kleinen Beutels, den sie auf dem Rücken getragen hatte, und war gerade dabei, eine Anzahl von Päckchen, Taschen und weiteren Baumwollbeuteln über die gesamte Sitzfläche ihrer Bank auszubreiten, als sie mich in meiner Fensterecke bemerkte. Ein kurzer Gruß, ich drückte meinen Kopf wieder in den muffigen Vorhang. Dies hier ist meine Zelle. Die Gitter bleiben geschlossen! Niemand soll es wagen, sich einzumischen!

Ich versuchte, keine Notiz von ihr zu nehmen, aber ihre Nervosität füllte das ganze Abteil. Ohne es zu wollen, erhaschte ich einige aufrührerisch zornige Gedankenfetzen.

"Dieses Schwein! Klaut mir meinen ganzen Verdienst. Die ganze Arbeit für die Katz’. Und wie zahl’ ich jetzt die Heimfahrt?"

Auch mit geschlossenen Augen war nicht zu überhören, wie sie unwillig hin und her rutschte. Dann stand sie auf und ließ sich auf den Sitz neben mir plumpsen.

Gleich würde sie mich ansprechen.

"Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus, dass ich Ihnen so auf die Pelle rutsche."

Ich wollte jetzt nicht sprechen und zuckte mit den Schultern.

"Mir wird nämlich schlecht, wenn ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze."

Wortlos räumte ich den gegenüberliegenden Fensterplatz frei und verkroch mich erneut in die Ecke.

Meine abweisende Geste schien ihr nichts auszumachen. Sie begann, ihre verstreute Habe einzusammeln.

"Zicke", hatte sie das Wort gemurmelt oder ich es gedacht? Wir sahen uns an, schuldbewusst, beide verlegen.

Ich zog eine der bunt gemusterten Stofftaschen unter mir hervor und reichte sie hinüber, dabei berührten sich unsere Hände. Ihre Haut war warm und lebendig.

Da war es, als hätte die junge Frau die Tür zu dem dunklen Raum, in dem ich mich in meiner Angst verkrochen hatte, einen Spaltbreit aufgestoßen. Ein schwacher Lichtschein drang herein, um mir das Vorhandensein einer heilen, unbedrohlichen Welt anzuzeigen. Ein Schimmer nur und doch...

"Das ist eine hübsche Handarbeit. Haben Sie den Beutel selbst gemacht?"

Voller Stolz kramte sie aus ihren Taschen noch weitere Stücke hervor. Kleine Rucksäcke, Börsen und aus verschiedenartigen Materialien zusammengesetzte kurze Westen, alles fantasievoll und mit Geschmack angefertigte Arbeiten, die sie auf einer Kreativitätsmesse in Aachen ausgestellt und zum Verkauf angeboten hatte.

"Viel ist damit nicht zu verdienen", sagte sie, "aber mit meinem lausigen Gehalt komme ich nun mal nicht aus. So kann ich mir ein paar Extrawünsche erfüllen. Na ja, das habe ich zumindest gehofft, aber im allgemeinen Durcheinander, als alle zusammenräumten, hat mir irgend so ein Schwein mein ganzes Geld geklaut."

Ich sah, wie sich im Zugfenster das schummerige Licht unseres Abteils widerspiegelte. Es sperrte die dunkle, vorbeihuschende Landschaft aus und zeigte das beinahe intime Bild zweier, ganz in ihr Gespräch vertiefter Frauen. Es verführte die neue Freundin dazu, immer mehr von sich selbst zu erzählen.

Ihr Name war Marcia und sie wohnte seit einigen Jahren in der Stadt, in der ich beabsichtigte, für eine Weile unterzutauchen.

"Meine Sachen sind ganz gut. Ich werde mich schon noch durchsetzen. Das geht nun mal nicht von heute auf morgen", sagte sie und gestand sodann verlegen, dass sie sich eigentlich mehr Erfolg von ihrem, wie sie es nannte, ‘nicht uninteressanten’ Aussehen versprochen hatte, als von ihrem handwerklichen Geschick.

"Träume", seufzte Marcia und rollte mit den Augen, wobei ihre Augäpfel erschreckend weiß und rund aus dem dunklen Gesicht hervortraten. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und zog die, wie ich zugeben musste, wirklich äußerst ansehnlichen, langen Beine zu sich auf den Sitz unter ihren Körper.

Am anderen Ende des Ganges hörte man Stimmen und das Auf- und Zuschieben der Abteiltüren.

Kleine Schweißtröpfchen standen auf Marcias Oberlippe als sie hastig hervorstieß: "Sie sind doch schon kontrolliert worden. Kann ich eben kurz Ihre Fahrkarte ausleihen?"

"Wie soll das funktionieren?"

"Ich schiebe sie dem Schaffner unter der Klotüre durch, dann merkt er vielleicht nichts. Ich dachte halt, ich spar’ mir die Karte."

Nun muss ich aber gestehen, dass ich ein schrecklich ehrlicher Mensch bin. Selbst dann, wenn es mir eigentlich gerechtfertigt erschien, habe ich nie den Mut oder die Gewitztheit besessen, auch nur die kleinste Betrügerei zu begehen. Für meine neue Freundin gab es da keine Ausnahme.

"Ich mache Ihnen einen Vorschlag", sagte ich, "Geld ist für mich im Augenblick nicht wichtig, ich habe andere Probleme. Ich bezahle den Fahrschein für Sie und dafür helfen Sie mir bei der Suche nach einem vernünftigen Zimmer. Abgemacht?"

*

Seitdem benütze ich die abgeschabte Schlafcouch von Marcias verflossenem Liebhaber, in die jener mir unbekannte Mann eine beachtliche Kuhle hineingelegen hat.

Man kann durchaus sagen, dass wir voneinander profitieren: Marcia zahlt nur noch die halbe Miete und ich habe mir die Anmeldung bei den zuständigen Ämtern erspart. Wir brauchen noch nicht einmal allzu große Rücksichten aufeinander zu nehmen, denn wirklich teilen müssen wir die Wohnung nur an den Wochenenden. Marcia verbringt ihre Zeit tagsüber in einer Boutique, wo sie als Mädchen für alles eingesetzt wird. Ein bisschen verkaufen, die Änderungswünsche der Kunden erfüllen und ab und zu fertigt sie ausgefallene Kleidungsstücke an, auf deren Entwurf der Ladenbesitzer besonders stolz ist. Wenn sie abends nach Hause kommt, kann sie sich in ihren ordentlich aufgeräumten, sauberen Zimmern ausruhen, während ich um diese Zeit schon meinen Platz im Kartenhäuschen eines Kinocenters eingenommen habe. Sie neigt, gelinde gesagt, etwas zur Unordnung. Am späten Vormittag, wenn ich aus meiner Schlafkoje hervorkrieche, ist sie schon gegangen und mir hat sie ein absolutes Chaos hinterlassen. Besonders schlimm sieht es aus, wenn sie sich am Abend zuvor wieder einmal einem ihrer berüchtigten Kreativitätsschübe hingegeben hatte.

Die Schnur der Nähmaschine spannt sich quer durch das Zimmer. Am Boden häufen sich Stoffschnipsel und Fadenreste neben heruntergefallenen, tückisch aus den Teppichschlingen herausragenden Stecknadeln. Ihre getragene Kleidung vom Vortage muss man aus dem Papierhaufen für die Schnittmuster herausklauben. Mitten auf dem zusammengefalteten Stapel teuer aussehender Stoffcoupons steht ihr Teller mit Gemüseresten, die in einer unappetitlichen, fettigen Tunke schwimmen. Daneben der riesige Becher, aus dem sie ihren Frühstückskaffee getrunken hat. Sie lebt übrigens streng vegetarisch.

Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass das Badezimmer mit integrierter Toilette mich zu dieser Tageszeit einfach zum Schaudern bringt, zumal sie manchmal sogar vergisst, die Toilette durchzuspülen. Ich bin eigentlich auch nicht besonders ordentlich, aber da, wo Körperdünste oder -ausscheidungen ins Spiel kommen, gibt es für mich keinerlei Nachlässigkeit.

Dies mag jetzt alles ziemlich verbittert klingen. Verbittert bin ich aber nur morgens, weil ich kurz nach dem Aufstehen nicht einmal der kleinsten Belastung gewachsen bin. Wenn sie mir dann selbst gegenüber sitzt und auf ihre spontane, überschwängliche Art mit Händen und Füßen, Augenrollen und Schulterzucken zu erzählen beginnt, kann ich ihr unmöglich wirklich böse sein.

Von mir weiß sie bisher nur das Nötigste. Dass ich nichts verbrochen habe, und dass ich nicht der Überträger einer exotischen Seuche bin. Alles Weitere versuche ich, ihr ganz allmählich begreiflich zu machen, was gar nicht so einfach ist. Wenn das Zeichen in meiner Hand nicht wäre, das Zeichen der Kernwesen, das, wie ich mir einbilde, bereits etwas schwächer geworden ist, müsste ich mich heute selbst fragen, ob nicht alles nur ein Traum gewesen ist. Ein erschreckend realistischer Albtraum.