Andy More

Reglos vor Angst

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Es ist bereits sehr lange nach Mitternacht und wir haben ein halbes Dutzend Nachtklubs besucht. Helmer hat sich bis jetzt ganz ordentlich gehalten, aber unser Chauffeur zeigt ernste Anzeichen von Abspannung. Aus leicht angeschwollenen Augen versucht er mich zu taxieren, als wir vor einer weiteren Adresse halten. Ich zahle die aufgelaufenen Kosten und lege ein ordentliches Trinkgeld dazu, denn ich glaube nicht, dass er dieses Mal auf uns wartet. Genau so ist es. Er will uns nicht einmal hineinbegleiten und mit Helmers Zusage, dass es morgen um die gleiche Zeit wieder losgeht, fährt er heim.

Bevor wir eintreten, gönne ich mir eine ausgedehnte Zigarettenpause und blicke mich um. Uns ist kein anderer Wagen gefolgt, zumindest habe ich keinen bemerkt. Ein mehrmaliges Auftauchen desselben Gesichts bei unseren bisherigen Erkundungen wäre gleichfalls nicht unentdeckt geblieben.

»Glauben Sie im Ernst, dass das was bringt, Harry?«

»Auch mich plagen Zweifel, Paul«, gebe ich ehrlich zu.

»Ist auf jeden Fall besser, als blöde dazusitzen und verzweifelte Maßnahmen durchzuführen, oder?«

Es ist mir selbstverständlich ebenso wenig entgangen, dass unser Taxifahrer allzu oft in vertrauliche Gespräche mit zwielichtigen Gestalten verwickelt war. Vor allem wenn wir uns für keine der anwesenden Damen besonders zu interessieren schienen und nach ausgiebiger Konsumation die Rechnung verlangt haben. Das müsste Helmer genauso aufgefallen sein, deshalb gehe ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht näher darauf ein.

Wir genießen eine Weile die frische Luft, dann betreten wir die Bar. Drinnen ist es dunkel wie in einer Kuh. Eine Hostess muss mit einer Taschenlampe behilflich sein, damit wir eine Sitzgelegenheit finden können. Der Grund für die fehlende Beleuchtung wird uns klar, als ein Scheinwerfer die Bühne in gleißendes Licht taucht. Der Ansager verkündet mit blumigen Worten die nächste Attraktion und das Publikum klatscht begeistert Beifall.

Soviel ich mitgekriegt habe, ließ es sich ein Gast nicht nehmen, freiwillig an der Show teilzunehmen. Paul grinst mich schadenfroh an und bevor wir Spekulationen über das mögliche Schicksal dieses Armleuchters austauschen können, beginnt die Vorstellung.

Eine groß gewachsene Krankenschwester schiebt, von begeisterten Pfiffen und Jubel begleitet, ein Bett auf die Bühne. Der Patient, offenkundig unser freiwilliger Delinquent, steckt vom Hals an abwärts in einer Art Leichensack. Bei einigen Stammgästen scheint diese Darbietung bereits bekannt zu sein, denn deren Vorfreude ist beim besten Willen nicht zu übersehen. Auch der Ansager kann sich ein paar spöttische Sprüche nicht verkneifen.

Dem Spaßvogel in seiner Tüte ist mittlerweile merklich unwohl. Verwirrt glotzt er ins Publikum. Mit übertriebener Gestik hantiert die Dame unterdessen am Fußende des Bettgestells herum. Was jetzt folgt ist wirklich eine Nummer. Der vermeintliche Sack beginnt sich mit lautem Getöse aufzublasen und nimmt rasch eine eiförmige Figur an. Es hat den Anschein, als könne der Patient nicht einmal mehr den Kopf bewegen, als das Gebläse endlich aufhört. Unter tosendem Applaus besteigt die Frau das Bett und beginnt lüstern auf dem ballonartigen Gebilde herumzureiten. Etwas überspitzt kommentiert der Ansager ihre Aktionen.

»Wirklich nur für starke Nerven, meine sehr verehrten Damen und Herren!«, lässt er uns wissen. Dann legt er sich richtig ins Zeug. »Machen Sie das zu Hause unter keinen Umständen nach!«, warnt er die Anwesenden mit weit aufgerissenen Augen.

Das Publikum quittiert mit enthusiastischen Zurufen. Die Krankenschwester hat sich unterdessen bis zum Kopfende vorgearbeitet. Jetzt reibt sie wollüstig ihren Hintern auf dem einzig frei gebliebenen Körperteil des eingeschlossenen Statisten. Die männlichen Zuschauer sind außer Rand und Band. Helmer stößt mich heftig mit seinem Ellbogen in die Seite.

»Wenn die so weitermacht, kriege ich noch einen Herzanfall!«, ruft er mir mit Tränen in den Augen zu.

Das ist das Signal. Vor meinem geistigen Auge läuft ein Film ab. Ein Mann in bestem Alter mit Herzstillstand und ohne Verletzungen.

»Genauso wurde Jülich erledigt, Paul«, flüstere ich in sein Ohr.

Helmer stiert mich an, dann auf die Bühne und wieder zu mir.

»Das ist doch verrückt, Harry!«

»Im Gegenteil«, entgegne ich voller Überzeugung. »Das passt haargenau ins Schema.«

Die Krankenschwester ist von ihrem Opfer heruntergestiegen und gemeinsam mit dem Ansager schieben sie das Bett aus dem Rampenlicht hinter die Bühne. Die Erregung des Publikums hat sich gelegt und nach und nach wird es um uns herum heller. Der Laden ist rappelvoll und wir müssen in der Dunkelheit wohl den letzten Tisch ergattert haben. Helmer beugt sich gespannt über den kleinen Tisch und ich weihe ihn in meine Befürchtungen ein.

»Der Täter hat nicht damit gerechnet, dass Jülichs Tod überhaupt keine Schlagzeile machen würde. Und genau die will er haben. Da der spektakuläre Mord an Petersen ebenfalls ohne Reaktion bleibt, wird es sicher bald einen deftigen Nachschlag geben.«

»Und was will der Mörder Ihrer Ansicht nach damit bezwecken?«

Helmer ist noch nicht mit mir einig, obwohl gerade er wissen müsste, worauf ich hinauswill.

»Sie haben selber zugegeben, dass es keine zuverlässigen Zahlen bei Kinderprostitution gibt. Die Gesellschaft verdrängt erfolgreich diesen Tatbestand und unser Täter will den Sumpf trockenlegen. Er will die Öffentlichkeit mit seinen Taten aufrütteln, so einfach ist das.«

Ich habe nun ernsthafte Sorgen, was Ehrsams Verschwinden betrifft und Helmer plötzlich auch.

»Sie meinen, der Anwalt ist bereits in den Händen unseres Killers?«

Ich kann nur flüchtig nicken, denn die Serviererin will unsere Bestellung aufnehmen