Thomas Wendt


Lukas

Eine sinnlich liebevolle Männergeschichte


Eines Abends klingelte das Telefon, und als hätte er eine gewisse Vorahnung, daß mit dem Anruf Unheil verbunden war, wollte Lukas zunächst gar nicht abnehmen, obwohl er nüchtern war. Aber es klingelte und klingelte, und als Lukas klar wurde, daß der Anrufbeantworter nicht eingeschaltet war, ging er schließlich doch ran.

"Hallo, mein Engelchen? Ich dachte schon, du wärst nicht zu Hause..."

Eine Welle glühender Wut durchfuhr Lukas. Wie konnte es Bohlmann wagen, bei ihm anzurufen, nach allem, was geschehen war?

"Was willst du?" fragte er nicht gerade freundlich.

"Was ich immer will, mein Engel. Dich." Der Dicke lachte schmierig. "Ich habe gerade ein sehr anregendes Video gesehen und würde jetzt gerne..."

"Verpiß dich!" Lukas unterbrach die Verbindung, aber es klingelte erneut, und in der Hoffnung, es könnte diesmal vielleicht Frank sein, nahm er ab.

"Mein kleiner Engel, so was solltest du nicht tun..."

"Laß mich doch in Ruhe!" schrie Lukas. "Du hast mir alles kaputtgemacht! Reicht dir das nicht?"

"Nein, Engelchen, das reicht mir nicht. Ich will dich. Und zwar sofort!"

"Du spinnst wohl! Du glaubst doch nicht im Ernst, daß du mich jemals wieder begrabbeln darfst?!"

"Das glaube ich tatsächlich", entgegnete Bohlmann, und Lukas entging in seiner Wut der gefährlich klingende Unterton. "Ich hatte heute vormittag ein längeres Gespräch mit einem guten Bekannten von den Elektrizitätswerken Nordfriesland. Sagen wir mal, der Mann schuldet mir noch eine Gefälligkeit."

"Was geht mich das an?" fragte Lukas erbost.

"Eine ganze Menge, Engelchen. Entweder gehst du noch heute abend mit dem guten Onkel Frieder ins Bettchen, oder dir wird der Strom abgestellt!"

"Oh nein!" rief Lukas. "Mich legst du nicht herein! Das kaufe ich dir nicht ab!"

"Nein? Aber vielleicht kaufen mir einige Verlagshäuser das ab, was ich über dich zu erzählen weiß. Daß du eine kleine versaute Ratte bist. Oh, nicht daß mich das stören würde, aber..."

"Du Schwein, was willst du denn?" Lukas’ Stimme überschlug sich fast. "Mich fertigmachen?"

"Nein, dich vögeln, mein Herz. Und wenn du mich nicht ranläßt, wirst du bald sehen, was so ein einflußreicher Mann wie ich alles erreichen kann!" Der Dicke lachte. "Allerdings wirst du abends nicht mehr so sehr viel sehen - wenn erstmal der Strom abge-schaltet ist!"

"Mir drohst du nicht!" schrie Lukas außer sich und legte erneut auf. Dann schaltete er den Anrufbeantworter ein. Das Telefon klingelte sofort wieder, aber diesmal blieb Lukas hart. Von dem Dicken würde er sich nicht einschüchtern lassen. Aber das Klingeln des Telefons ging ihm ziemlich auf die Nerven. Voller Wut marschierte er in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er nahm einen langen Schluck, während das Telefon munter weiterklingelte und der Anrufbeantworter schließlich ansprang. "Mein lieber kleiner Engel, du solltest dir überlegen, ob es nicht klüger wäre..."

Unbändiger Haß erfaßte Lukas, und auf das erste Bier, das in wenigen Augenblicken leer war, folgten das zweite und dritte, während der Dicke seine Drohungen auf Band sprach, bis die Aufnahmezeit verstrichen war. Dann rief er wieder an, gab Obszönitäten von sich, bis das Band voll war, nur um gleich wieder Lukas´ Nummer zu wählen. Immer wieder, während Lukas das Bier hinunterstürzte und sich vorstellte, was er diesem ekelhaften Kerl am liebsten antun würde. Endlich trat die Wirkung des Alkohols ein, die er nun so sehr brauchte. Seine Phantasie wurde dadurch beflügelt, und in Gedanken ließ er Bohlmann qualvolle Tode erleiden, währenddessen der nicht müde wurde, immer wieder anzurufen. Seine Perversitäten gingen allmählich ins Krankhafte über.

"...hör mal, mein Engelchen, ich hole mir jetzt einen runter. Ooch, ist das schöön! Ich denke an dich, mein Engel. Ich stelle mir vor, wie du mir mit dem Mund..."

Bei Lukas brannte eine Sicherung durch. Er schrie auf, wankte aus dem Haus, stieg in seinen gelben BMW und startete den Motor, in der einen Hand immer noch eine Bierdose, die er unterwegs leerte und dann einfach aus dem Fenster warf, während er wie im Rausch Richtung Flensburg raste. Diesem Schwein würde er es zeigen! Kilometer für Kilometer bauten sich Wut und Haß in ihm auf. Eine Stimme irgendwo in seinem Hinterkopf riet ihm, anzuhalten und erstmal tief durchzuatmen, aber Lukas ignorierte sie und klammerte sich verbissen ans Lenkrad. Bohlmann wollte Spielchen - nun, er sollte sie bekommen!

Der alte Wagen schleuderte ächzend um die Kurven, während am Horizont die Sonne unterging. In den Ortschaften nahm Lukas kaum Gas weg. Einmal überfuhr er sogar eine rote Fußgängerampel und pöbelte in Richtung des alten Mannes, der erschrocken zur Seite sprang. Endlich erreichte der BMW den Flensburger Stadtrand und kam schließlich quietschend vor Bohlmanns Villa zum Stehen. Lukas sprang heraus und eilte im Laufschritt die Auffahrt entlang. Er klingelte an der Tür und hämmerte gleichzeitig mit der Faust dagegen.

Die dicke Holztür öffnete sich, und Lukas starrte direkt in Bohlmanns überrascht dreinblickende Augen. Natürlich, er öffnete selbst, weil das Personal frei hatte. Deshalb hatte er Lukas auch noch heute sehen wollen.

"Oh, du kommst doch noch!" rief der Dicke aus und lockerte den Gürtel seines Bademantels etwas. "Wie günstig."

"Ja, aber es wird dich nicht freuen!" schrie Lukas und ergriff den Hals des Bauunternehmers. Dessen Bademantel glitt auf, und er konnte sehen, daß der Dicke eine Erektion hatte.

"Ja, mach weiter!" rief Bohlmann, als Lukas ihn würgte. "Das ist gut!"

"Das glaube ich nicht!"

Lukas schlug seinem Gegenüber mit der Faust ins Gesicht, stieß ihn in die Eingangshalle und schloß hinter sich die schwere Tür. Der Dicke wich ängstlich zurück. Seine Lippe war aufgeplatzt, und Blut tropfte auf seinen fetten Bauch. Sein eben noch aufgerichtetes Glied erschlaffte.

"Bist du verrückt geworden?"

"Vielleicht", antwortete Lukas und schlug wieder zu. Bohlmann schrie gequält auf.

"Hör auf! Was soll das?"

"Das könnte ich dich fragen!" gab Lukas zurück. Seine Faust traf erneut ihr Ziel, und Bohlmann machte einen Satz nach hinten. "Was sollte der Anruf bei meinem Freund?"

Bohlmann antwortete nicht sofort und Lukas schlug gleich wieder zu. Dabei verspürte er eine tiefe Genugtuung.

"Laß das!"

Der Bauunternehmer hielt sich schützend die Arme vor sein mittlerweile zerschundenes Gesicht, aber Lukas trat ihm mit voller Wucht zwischen die Beine. Bohlmann heulte auf, sackte in sich zusammen und blieb auf dem gefliesten Boden der Halle hocken. Lukas´ Schuhspitze erwischte ihn am Kinn, und mit weit geöffnetem Bademantel fiel der Dicke nach hinten um. Während er dort wimmernd liegenblieb, zog Lukas langsam den Gürtel aus seiner Hose. Seine Wut auf Bohlmann war immer noch ungeheuer groß und wollte sich - mußte sich - weiter entladen. Lukas sah förmlich rot, und wenn man später seine Handlungen mit einer Art Blutrausch begründet hätte, wäre dieser Vergleich nicht so verkehrt gewesen. All der Haß auf den Bauunternehmer, die Ohnmacht und zeitweilige Abhängigkeit von diesem ekelhaften Menschen brachen nun in einer Attacke hervor, die Frieder Bohlmann sein Leben lang nicht vergessen würde. Lukas wollte Rache und nahm sie jetzt!

"So, mein Freund", schnaufte er, "jetzt bekommst du eine ganz besondere Lektion. Das wird dir erst recht gefallen."

Und knallend ging der Gürtel auf Bohlmanns entblößten Körper nieder. Wieder und wieder holte er aus, während der Dicke schrie, bettelte, drohte und ihm Geld anbot, wenn Lukas nur aufhören würde. Er versuchte verzweifelt, sich mit den Armen vor den Hieben zu schützen oder sich zur Seite zu rollen, aber Lukas hatte ihn in eine Ecke der Halle getrieben, aus der er nicht entkommen konnte, und entwickelte nach und nach beim Zuschlagen eine immer höhere Präzision. Außerdem tat der Gürtel höllisch weh, egal wo er traf.

Schließlich spürte Lukas, wie der Wutanfall allmählich verebbte. All die Wut und der unterschwellige Haß auf Bohlmann über das, was er ihm angetan hatte, was Lukas hatte erdulden müssen bei seinen Besuchen in dieser Villa, hatten sich in einem Sturm von Schlägen und Hieben auf den dicken Bauunternehmer abreagiert, der nun blutend und heulend vor ihm lag. Lukas kam wieder zur Besinnung, starrte einen Moment wie verwundert auf seinen Gürtel und band ihn wieder um.

"Warum?" wimmerte Bohlmann, der sich ein wenig aufrichtete und mit dem Rücken an der Flurwand abstützte. "Warum hast du das getan?"

"Das weißt du sehr genau", antwortete Lukas ohne Kraft. "Du hättest weiß Gott noch mehr verdient." Er atmete tief durch. "Und nun hör mir gut zu", fuhr er fort. "Ich sage das nur einmal. Du läßt mich ab sofort in Ruhe. Keine Anrufe mehr, keine Einmischung in meine Angelegenheiten, nichts. Und wenn du meinst, du müßtest unsere kleine Unterhaltung an die Polizei melden, dann wirst du meine Qualitäten als Autor mal so richtig kennenlernen. Ich denke nämlich, daß du mehr zu verlieren hast als ich. Ich werde unsere Geschichte jeder Zeitung, jeder Illustrierten anbieten, und du kannst dann zusehen, wie du noch an Bauaufträge herankommst. Hast du mich verstanden?" Lukas blickte drohend auf den schluchzenden Fettberg zu seinen Füßen herunter.

"Ja", entgegnete Bohlmann schniefend. "Ich habe dich verstanden."

"Dann ist es gut. Ich sage nicht ‘Auf Wiedersehen’, denn ich hoffe für dich, daß du mir in Zukunft aus dem Weg gehst."

Lukas wollte sich umdrehen und gehen, als etwas Hartes auf seinen Kopf krachte und die Welt in glitzernden Punkten und schließlich in Dunkelheit versank.