Klaus Uhlenbrock

Regen über Vietnam

1.

Gelblich, wie gasförmiges Gold, hing das Licht der Laternen über der Stadt. Die Sonne war schon ein paar Stunden am Horizont verschwunden, und Scranton begann in den frühen Abendstunden in der künstlichen Beleuchtung zu pulsieren. In der Hauptzone der City flimmerten unaufhörlich die Leuchtreklamen, und das Leben der Dunkelheit lief zwischen den Hochhäusern dahin. Der Verkehr war rege. Keiner kannte wohl seinen Nachbarn, das war scheinbar das Gesetz der Nacht und sicherlich einer der Gründe für die Morde und Überfälle. Aus Gleichgültigkeit für den Nächsten.

In einer dunklen Nebenstraße, irgendwo im Nordosten der Town, parkte ein einsamer Wagen unter einer der starken Neonlampen. Die eine Hälfte der Frontscheibe reflektierte das Licht der surrenden Birnen, um die einsam ein paar Motten lautlos ihre Kreise zogen. Die spiegelnde Scheibe war es auch, die die Person auf dem Beifahrersitz für etwaige vorbeigehende Spaziergänger unsichtbar machte, was dem im Auto sitzenden Mann ganz recht war. Der Wagen war ein alter GM, grauschwarz-metallic. Alt, aber gut gepflegt.

In dieser Straße standen Einfamilienhäuser, die alle von einer kleinen Grasfläche umgeben waren und die den Reichtum ihrer Besitzer ausstrahlten. In vielen der Eingänge brannte das Licht. Eine mehr als dumme Angewohnheit. Einsam stand abseits des Ganzen der alte GM und horchte in die Nacht. Der Mann im Auto sah auf seine Citizen. Null Uhr, Mitternacht. In diesem Augenblick umrundete eine weitere Person den GM und nahm auf der Fahrerseite Platz. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, schlug er aufs Lenkrad und fluchte in spanischer Sprache: "Madre dios!"

"War er nicht da?" wagte die Person auf dem Beifahrersitz zu fragen.

"No, compadre! War er nicht!" kam die Antwort und die Stimme des mit fremdländischen Akzent Sprechenden klang wie das Zischen einer Schlange.

"Dann müssen wir warten", sprach der zweite wieder, "er wird schon kommen." Und damit blickte er erneut auf die Straße.

"Er wird schon kommen," zischte unhörbar der andere. Die spanisch fluchende Person drehte sich zu seinem Nebenmann um und sah ihn spöttisch an. Da saß ein rundlicher, ja fast dicker, kleiner Zwerg neben ihm, dessen äußeres Erscheinunhsbild wohl keinem Angst einflößen würde. Warum hatte man gerade ihm diesen Typen ins Auto gesetzt! Er hätte sich am liebsten auf die Lippe gebissen. Diese rundliche, unförmige Gestalt mit der fliehenden, von spärlichen Haaren besetzten Stirn; die kleinen Augen und die dünnen Lippen mit dem messerscharfen Schnurrbart. All das hatte er noch nie zugleich an einem Mann gesehen. Fast hätte er laut aufgelacht, doch die ganze Szenerie und die Umstände ihres Auftrages ließen ihn schweigen. Er fluchte nur ein zweites Mal: "Madre dios!"

Der Zweite blickte von der Straße weg und drehte seinen Kopf ein wenig zum Fahrer. Heute erst hatten sie ihm diesen Jungen zugewiesen, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Immer noch trieb ihm der Gedanke an den Pferdeschwanz des anderen die Lachtränen ins Gehirn, wohingegen die 38er, die der Typ in einem Schulterhalfter unter seinem Jackett trug, leichtes Stirnrunzeln verursachte. Überhaupt wirkte sein Nachbar eigentlich gar nicht so, als wenn er aus einem der "Entwicklungsstaaten" kam. Er schien gepflegt, mehr als die anderen, die der Dicke kennengelernt und mit denen er bisher zusammengearbeitet hatte.

"Bist Du eigentlich schon lange in unserem Land?" fragte er schließlich, um eine Unterredung zu beginnen.

"Lang genug", antwortete der andere mit fester Stimme, und mit diesen unfreundlich abstoßenden Worten wurde die Unterhaltung im Keim erstickt. Sie mochten sich nicht, das war beiden klar. Man hatte sie zusammengetan, ohne daß sie darum gebeten hatten. Beide waren sie Spezialisten auf ihrem Gebiet. Jeder für sich gut, doch im Grunde genommen völlig verschieden. Kain und Abel. Der spanisch Sprechende war erst vor zwei Tagen aus seinem Heimatland, Kolumbien, hierher beordert worden. Viel Geld war es, was ihn gelockt hatte und der Wunsch seines Patron, sich doch etwas um "eine Person zu kümmern", die einem Freund Ärger bereitete. Was damit genau gemeint war, wußte er bis zu seiner Ankunft in Scranton noch nicht. Der Dicke stammte aus New York, wo ihm der Boden unter den Füßen etwas zu heiß geworden war. Ein Grund mehr, die Stadt zu verlassen und diesen Auftrag anzunehmen.

Eine alte Frau ging auf der anderen Straßenseite mit ihrem Hund Gassi. Sie sah kurz hinüber zum Auto, doch sie sollte sich später nicht daran erinnern können, daß in dem Wagen zwei Männer gesessen hatten. Die Augen des Dicken wanderten noch kurz über das Gesicht seines Nachbarn und blieben schließlich im Dreitagebart des Kolumbianers hängen. Gerade als ihm eine Bemerkung darüber in den Sinn kam, sprach der andere: "Es kommt jemand."

Tatsächlich trat von vorne eine Gestalt aus dem Dunkel der Nacht. Unförmig waren seine Umrisse in dem wenigen Licht der Laterne zu erkennen, aber er schlug den Weg zum richtigen Haus ein, welches die beiden Männer im Auto die ganze Zeit überwacht hatten. Das mußte ihr Mann sein.

"Vamos", sprach die spanisch sprechende Person und öffnete die Tür an seiner Seite. Doch bevor er noch aussteigen konnte, hielt ihn der andere am Arm zurück.

"Keine Gewalt", sagte der Dicke im Brustton der Überzeugung, "erst wenn ich es sage. Wir wollen nur die Disketten. Verstanden?"

Der Kolumbianer grinste nur. Dann sagte er noch einmal: "Vamos", und stieg aus. Der Dicke folgte seinem Beispiel. Er traute seinem Partner nicht, den man ihm als Gonzales vorgestellt hatte. Der Mann schien verschlagen zu sein. Dieses Gesicht, das wohl grinsend zuschlagen konnte, wollte ihm gar nicht gefallen. Aber was sollte er machen. Die Männer, die ihn anheuerten und gut bezahlten, sie verteilten das Geld und hatten nichts über für persönliche Sachen. Naja, es war ja nur dieses eine Mal, daß sie zusammenarbeiteten, schätzte der Dicke. Doch er sollte dieses eine Mal nicht so schnell wieder vergessen.

Sie ließen den GM unverschlossen und sahen sich beim Laufen immer wieder in alle Richtungen um. Die Straße war menschenleer, nur in weiter Entfernung lief diese alte Frau mit ihrem Hund, die von alledem nichts mitbekam. Sie verschwand je nach Einzugsbereich der Laternen.

Die Motten schwirrten noch immer durch die Nacht und suchten, halb blind von dem Neonlicht, das sie wie ein Magnet anzog, nach mystischen Geheimnissen. Auf einmal kam, gleich einem Schatten, eine Fledermaus aus dem Schwarz der Nacht unter das Licht und griff sich eine der herumirrenden Insekten. Und Bruchteile von einer Sekunde später verschwand der Ledervogel wieder. Gonzales schnalzte mit der Zunge. Sie erreichten den kleinen gepflasterten Weg, der zum Haus führte, und die genagelten Schuhe des Dicken hallten unheilverkündend durch den Dunst der Dunkelheit. Vor ihnen glomm plötzlich eine Lampe auf und sie hielten einen Moment in ihrem Lauf inne.

"Er hat Licht gemacht", flüsterte der Dicke und blickte schnell zu den Nachbarhäusern, die auf beiden Seiten jeweils vielleicht zehn Meter entfernt waren. Doch gab es dazwischen genug Sträucher und niedrige Hecken, die als Abgrenzungen fungierten und die die beiden nun zu ihrem Schutz gebrauchen konnten.

"No cundir el panico", klang die Antwort leise von Gonzales, der ruhig, fast eiskalt, immer näher auf das Haus zuschritt, keinen Blick von der Person lassend, die soeben den Schlüssel in das Schloß der Haustür steckte. Noch bevor er ihn allerdings umdrehen konnte, packte Gonzales den jungen Mann von hinten und legte ihm seinen Arm brutal um den Hals. Der Mann erschrak und ließ den Schlüssel angsterfüllt fallen. Da faßte der Kolumbianer auch schon seinen Arm und drehte ihn auf den Rücken.

"Ruhig, compadre!" zischte er wie ein Waran, "no panico!"

Und er riß den Kopf des sich kaum Wehrenden an die Schulter. So im Kasten eingekeilt verlor der Mann fast die Besinnung. Da entdeckte er die zweite Person, die ihn wohl scheinbar überfallen hatte. Der Dicke trat auf die Veranda des Hauses, die knarrend sein Gewicht zu ertragen versuchte.

"Hallo, Paparazo", grinste er feist und fett, "nett Dich wiederzusehen.

"Was wollen Sie?" japste der Angesprochene.

"Du schuldest uns eine Kleinigkeit, amigo!" zischte Gonzales.

"Ja!" sprach da auch der Dicke, "nur ‘ne Kleinigkeit, und die hätte unser Auftraggeber gerne wieder. Der fand das gar nicht nett, Phil. Sie heißen doch Phil, nicht?"

"Sind Sie nur hier, um meinen Namen kennenzulernen?" versuchte Phil zu witzeln, woraufhin Gonzales ihn noch eine Spur härter packte.

"Nicht frech werden!" schalt er ihn brutal, während sein Gefangener vor Schmerzen aufschrie. "Ich denke", sagte der Dicke, "es wird besser sein, wenn wir uns in Ihrer Wohnung weiter unterhalten!"

Damit hob er den Wohnungsschlüssel vom Boden auf und öffnete die Haustür. Während er die Schwelle überschritt, warf Gonzales einen letzten Blick über die Straße, die ruhig und beschaulich dalag. Die einzige Person, die in der Ferne auftauchte, war die alte Frau mit ihrem Hund. Es wurde Zeit, daß sie aus dem Licht der Veranda verschwanden und ins Haus gingen.

Die Wohnung war gemütlich eingerichtet. Vom engen Flur aus konnte man rechts in die kleine Küche einsehen, wo der Tisch schon gedeckt zum Frühstücken einlud. Geradeaus führte eine Treppe nach oben und links war ein offener Durchgang zum Wohnraum. Gonzales stieß den Mann, den sie Phil nannten, in das Sofa, das hier in der Mitte des Zimmers stand. Dabei stolperte er über den Glastisch, der vor dem Ledermonstrum kniete und von dem nun einige Sachen krachend auf den Boden fielen. Eine Glasvase zersplitterte und verteilte gefährliche Scherben. Phil hielt sich das schmerzende Knie, das er sich an dem Tisch angestoßen hatte.

"Oh", sagte Gonzales ironisch, "hat es etwa weh getan?"

"Laß das!" gab der Dicke brummend von sich und wandte nun seine Aufmerksamkeit in den Hintergrund des Raumes, während Phil ihm mit den Augen dorthin folgte. Hier stand ein alter Sekretär, besetzt mit einem Computer und einem Laserdrucker, der so gar nicht in den Stil des Schrankes passen wollte. Auch lagen mehrere Disketten herum, die der Dicke einzeln aufhob und dann, nachdem er sorgfältig die Etiketten überprüft hatte, auf den Boden fallen ließ. Aber die Richtigen schienen nicht dabei zu sein, denn er drehte sich unvermittelt zu den beiden anderen um.

"Okay", sprach er frostig, "wo sind Sie?"

"Wo sind was?" wagte Phil zu fragen.

"Die Disketten!" Wut trat in die Stimme des Dicken und die drohende Haltung roch nach Ärger. "Die Disketten mit den dummen Informationen!"

"Ich weiß wirklich nicht wovon Sie..."

Mit einer müden Kopfbewegung setzte der Dicke Gonzales in Aktion. Dieser zog seine 38er und hielt sie an Phils Schläfe. Der kalte Stahl trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.

"Okay! Okay!" sagte er schnell, da er einsah, daß ihm das Dummstellen nichts einbrachte. "Ihr sucht Disketten. Sie sind nicht hier. Glaubt mir!"

Gonzales grinste zum Dicken hinüber und schlug dann unvermittelt mit der flachen Hand zu. Der Schlag traf Phil hart und riß seinen Kopf zur Seite. Blut tropfte aus der Oberlippe aufs Sofa. Er spürte die warme Flüssigkeit und leckte ein wenig mit seiner Zunge auf.

"Wo sind sie?!" fragte der Dicke weiter, ohne eine Miene zu verziehen.

"Die Disketten?"

"Hey, Phil", lächelte Gonzales diabolisch, "komm schon! Mach den Mund auf, Du hast doch nur eine Zunge, also würde ich sie auch gebrauchen, compadre!"

Und nach einer kurzen Pause sprach er noch einmal mit Sarkasmus: "Bei uns in der Heimat gibt es ein Sprichwort: Rede, oder schweig für immer! Comprende?!"

Dann nahm er seine Zunge zwischen zwei Finger und machte mit dem Lauf seiner 38er Magnum eine nicht zu verkennende Handbewegung. Die blendend weißen Zähne von Gonzales wirkten dabei wie die Inseln in einem weiten Ozean.

"Okay, gut", gestand Phil, zum Dicken hin nickend, schließlich, "die Disketten findet Ihr in der Küche, in einer Metalldose."

"Na also, kluges Kind!" Gonzales tätschelte ihm mit der Pistole die Wange.

Und auch der Dicke strahlte. "Wunderbar. Das erspart Dir ‘ne Menge Ärger, Phil. Wo sind die Sicherheitskopien?"

"Es gibt keine."

"Keine?" der Dicke runzelte die Stirn.

"Ich hatte bisher noch keine Zeit!" sagte der Journalist nervös.

"Erzähl das Deiner Großmutter!" herrschte ihn da der Mann an und ging noch einen Schritt näher auf ihn zu. "Doch mir reicht es langsam mit Dir! Du scheinst ja nicht mit uns kooperieren zu wollen. Nun gut, dann versuchen wir es mit ein paar anderen Methoden! Doch da sie die Nachbarschaft wecken würden, und wir wollen sie doch schlafen lassen, schlage ich vor, wir gehen woanders hin. Gonzales!"

Das ließ sich der Kolumbianer nicht zweimal sagen. Ehe Phil es sich versah und zu Gonzales umdrehen konnte, traf ihn schon der Griff der 38er und warf seinen Kopf zur Seite aufs Sofa. Das wirkte wie die Fernbedienung beim Fernseher. Bewußtlos krachte Phil danach auf den Tisch und von dort aus auf den Boden, wo er wie ein nasser Sack liegenblieb. Während sich nun Gonzales zu ihm niederbeugte und einen Hemdsärmel aufriß, zog der Dicke eine Spritze aus seiner Jackettasche und setzte eine Kanüle auf die Öffnung.

................

"Wenn dieser ‘Sicherheitsdienst’ so gut gearbeitet hätte", schnaufte Craig, "dann würde Phil noch leben. Nein, da muß was total schief gegangen sein und genau davon wollte er mir, und nicht der Polizei, berichten. Er ist umgebracht worden und ich habe den Verdacht, daß da Dein ‘Sicherheitsdienst’ dahintersteckt."

"Komm schon, Craig!" brauste Ed Walters auf und steckte sich eine Zigarette an, "das glaubst Du doch selber nicht."

Marvin überhörte den Satz und warf einen Blick nach draußen in die dunkle Nacht. Er hatte da seine eigene These.

"Was ist denn mit Jenny?" fragte er nach einer kurzen Zeit, "Du sagtest, Du hättest auch Neuigkeiten über sie?!"

Walters lächelte und griff sich in seine Anzugtasche, ohne daß Craig dieses sehen konnte. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, da umklammerten seine Finger eine Fotografie, die er an die Schreibtischlampe lehnte. Dann wartete er auf eine weitere Reaktion seines Freundes.

"Also, ich warte?!" stocherte Marvin nach und wendete seinen Kopf. Dann sah er auf das Foto und ein erstaunter Ausruf floh ihm von den Lippen. Er griff sich das Bild und blickte über das Antlitz der Frau, die er seit mehr als fünfundzwanzig Jahren nicht mehr lebend gesehen hatte.

"Das.., das ist Jenny?!" gestand er nach einer Schreckminute. "Woher hast Du das Bild?"

"Eben in jenem Buch fand ich es", grinste Ed, "in dem auch die Briefe des C.I.A. steckten. Sie ist es, nicht wahr. Ich habe sie auch gleich wiedererkannt. Lies mal den Text auf der Rückseite."

Mit zitternden Händen drehte Craig das Bild um und starrte auf ihre Handschrift, die ihm sogleich bekannt und vertraut vorkam. Doch als er die Worte gelesen hatte, die da mit Tinte niedergeschrieben standen, da meinte er falsch gelesen zu haben, und er wiederholte seine Arbeit. Doch er hatte richtig gesehen. Da stand:

"Für Phil, meinen über alles geliebten Sohn."

4.

"Sohn?" flüsterte Craig und warf einen langen, trüben Blick auf seinen Freund Ed.

"Ja, Craig. Sohn!" gestand Ed mit einem eigenartigen Tonfall in seiner Stimme. Für einige lange Augenblicke trat Ruhe in den Raum, die sich wie ein Belag auf die Gedanken der beiden Freunde legte und sich dort festbiß.

"Sie lebt also noch!" sprach Craig mit angekratzter Stimme. "Sie hat all die Jahre gelebt und sich nie bei mir gemeldet. Warum nur?"

"Vielleicht hat sie es versucht und es nicht geschafft."

"Vielleicht", Marvins Gehirn versuchte diese Möglichkeit zu verarbeiten, aber er vermochte es nicht so schnell. Daher fuhr er fort: "Aber ich glaube es einfach nicht. All die Jahre habe ich mir Vorwürfe gemacht, habe mich verkrochen vor der Vergangenheit, habe verzweifelt nach Liebe gesucht und doch nie die schrecklichen Ereignisse verdrängen können. Und nun holt mich diese Sache wieder ein wie ein verhaßter Alptraum. Warum hat sie sich nicht gemeldet? Mich wie eine leere Kiste weiterleben lassen!?"

Er betrachtete noch einmal ihr Antlitz auf dem Foto: "Sie sieht gut aus, findest Du nicht?"

"Ja, Craig, sie ist eine schöne Frau."

"Das ist sie allerdings. Ob sie wohl noch immer in Vietnam lebt? Vielleicht hat sie ihren Traumsoldaten doch noch gefunden. Einen, der sie nicht hat sitzen lassen."

"Bist Du da nicht etwas zu streng mit Dir, Craig!?" Eds Worte schwirrten wie Motten um Marvins Kopf, doch er verscheuchte sie mit einer müden Handbewegung: "Nein, das glaub ich nicht. Ich war die ersten Jahre, bis Ende der Siebziger, noch viel strenger. Dazu kam die Nutzlosigkeit dieses Krieges. Doch nun bin ich müde über all das nachzudenken. Die letzten Stunden haben mich alt werden lassen, alt und traurig. Ich hatte schon zuviel verdrängt und meinte der Vergangenheit entkommen zu sein. Aber nun..."

Da traf den Inspektor eine Idee. Seine glänzenden Augen weiteten sich, als er sagte: "Na, dann hast Du doch hier die beste Gelegenheit die alte Sache ein für allemal zu Ende zu bringen."

"Ich verstehe nicht?!"

"Such Sie auf!" rief Ed, dessen graue Gehirnzellen bereits unter dem Einfluß verschiedener alkoholischer Getränke lagen: "Such Sie und entschuldige Dich!"

"Das kann ich nicht. Wie soll ich das denn machen?"

"Na, Du bist der Detektiv!" lachte Walters. "Laß Dir was einfallen"

"Und wo soll ich sie suchen?!"

"Denk doch mal nach", lallte Ed und lächelte leise, "dieser Typ vom C.I.A. fragte Dich doch, ob Du sie von Vietnam her kennst, oder nicht?! Ich vermute, sie hockt noch immer dort, aus welchen Gründen auch immer. Versuch es also in dem Land. Vielleicht hatte der Typ ja den richtigen Riecher!"

Doch im gleichen Moment kamen ihm Zweifel in den Kopf. Vietnam war nicht gerade das rechte Land für solch eine Suche. Daher schüttelte er wieder den Kopf, nachdem er alles erneut durchdacht hatte, soweit es der Alkohol zuließ.
"Ach, alles Quatsch", rief er und rieb sich die trockenen Augen, "vergiß was ich gesagt habe. Das geht ja gar nicht."

"Wieso nicht, warte mal!" Craigs Pupillen verloren sich in der Idee, die ihm sein Freund wie eine heranreifende Frucht in den Kopf gelegt hatte. Dieser verrückten, interessanten Idee: "Man könnte es versuchen, ja, Du hast recht."

Er nahm eine kräftigen Schluck Scotch, doch spukte er das Zeug schnell wieder zurück ins Glas. Stattdessen sprang er auf und goß Wasser in seine Kaffeemaschine. "Willst Du auch einen?"

"Nein, Craig", wehrte Ed das Angebot ab, "also, hast Du mir zugehört?! Vergiß diesen Vorschlag und laß das Vergangene ruhen. Zuviel Zeit ist vergangen."

"Gerade das ist es ja", sagte Craig und schaltete den Automaten an, der prustend und schnaubend seinen Dienst aufnahm. Der Detektiv setzte sich wieder und ergriff die Fotografie: "Sieh doch, Eddy, das hier ist das erste Lebenszeichen von Jenny, auf das ich seit fünfundzwanzig Jahren gewartet habe. Ich war all die Jahre wie versteinert, zu feige etwas zu tun und sie zu suchen. Ich war mir sicher sie verloren zu haben; das sie tot ist. Und nun dies hier. Ihr Sohn wollte mich, gerade mich, für irgendeinen Auftrag. Kommt Dir das nicht auch seltsam vor?"

"Ein bißchen allerdings", Ed kratzte sich am Kopf und wurde erst jetzt auf diese Tatsache richtig aufmerksam.

"Und dann dieser C.I.A. Mann. Wenn Phil irgend etwas mit dem Geheimdienst zu tun hatte, warum haben die ihm nicht geholfen? Nein, da stimmt ‘ne ganze Menge nicht, glaub mir. Du tätest gut daran, hinter der ganzen Sache nachzuhaken. Und ich werde in der Zwischenzeit versuchen, Jenny zu finden, und ihr von der Angelegenheit erzählen."

"Du brauchst ein Visum für Vietnam", Ed versuchte noch einmal seinen Freund zu überzeugen, die Idee fallen zu lassen, doch er stieß auf taube Ohren.

"Das Visum wirst Du besorgen, Eddy", sagte Craig weiter, "Du hast gute Verbindungen dafür."

"Das wird Monate dauern, Craig", wehrte der Polizist kopfschüttelnd ab.

"Du wirst es schneller schaffen, ich weiß es. Ich muß Jenny wiedersehen", Marvin erhob ihr Bild, "das bin ich mir und auch ihr schuldig."