Charlotte Toma

Zwei Welten

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Wir fuhren weiter Richtung Grenze und natürlich – wie sollte es in einem kommunistisch geführten Lande, in dem man Deosticks als Trophäen ergattert – auch anders sein: Es gab kein (!) einziges (!) und schon gar kein nettes (!) Restaurant am Straßenrand. Hinweisschilder auf gemütliche Sommerterrassen hatte ich aus meinem Gedächtnis verbannt, wenngleich ihnen die ganze Zeit meine Sehnsucht gegolten hatte.

»Heute Abend sind wir in Istanbul, dann tafeln wir. Dort ist es auch viel besser.«

Miro wusste, worum es ging. Ich kramte nach meinen Migränetabletten, um Kopfschmerzen und Sehstörungen schon im Keim zu ersticken und würgte ohne Flüssigkeit erfolgreich eine der segensreichen Tabletten auf nüchternen Magen in mich hinein. Zwar bezahlte ich diese Prozedur mit Magengrimmen, doch das, entschied ich, war allemal besser als Migräne und Sehstörungen.

Wir lebten mit der Hoffnung auf ein gutes Mahl in Istanbul und erreichten den Grenzbereich am frühen Nachmittag. Eine sehr abgeschiedene Grenzstation 23 Kilometer in den Bergen. Keine Bewohner, viel Wald und nur eine geteerte Straße. Malko Tarnova. Danach waren es noch 388 Kilometer bis Istanbul. In den Bergen, weit weg jeglicher Zivilisation. Kein Mensch würde sich hierher verirren. Ich ging davon aus, dass wir völlig reibungslos die Station passieren könnten. Unsere Pässe waren okay. Die der Schwiegereltern hatten ein nagelneues Visum. Schmuggelware war keine dabei.

Doch fünf Kilometer vor der Grenzstation sah die Lage plötzlich völlig verändert aus. Da standen Autos. Rumänische Dacias. Voll gestopft bis unters Dach, grätschende Achsen, bepackte Dächer. Menschen lungerten scharenweise am Straßenrand herum. Es wurde gekocht, geredet, geraucht. Alles wies darauf hin, dass diese Autos schon seit Tagen stehen mussten. Es fand keine Abfertigung mehr statt, sonst hätte sich niemals eine so lange Schlange bilden können. Auf der ganzen Fahrt bis hierher waren uns im Höchstfall 20 Autos begegnet, was bedeutete, dass es eine verhältnismäßig lange Zeit erforderte, bis sich fünf Kilometer Stau ansammelten. Wir waren das letzte Auto!!! Wie lange würden wir hier stehen!? Keine Nahrungsmittel, keine Decken. Nichts. »Doamne« hörte ich Loyanas Entsetzen. Miro und Besam schwiegen beharrlich. Es herrschte Spannung im Wagen.

Ich malte mir aus, wie wir hier einige Tage und Nächte verbringen würden. Einen anderen Weg über die Grenze gab es nicht.

Wir hätten höchstens zwei Tage zurück bis nach Stara Zagora und dann bei Podkova über die Grenze gekonnt. Diese Grenze war aber nur gestrichelt eingezeichnet, also reichlich undefinierbar und vermutlich eher als Eselspfad denn als Fahrstraße zu erkennen. Und zwei Tage zurück! Für Miro war die Sache klar. Alle im Wagen ließen jetzt nacheinander in ihrer Sprache ein »Oh nein« oder »Ach du große Scheiße« hören.

Miro wirkte sehr konzentriert.

Mit einer schnellen Bewegung riss er das Lenkrad nach links, scherte aus der Schlange aus und fuhr an den stehenden Dacias vorbei. Volles Tempo, mit 90 Stundenkilometern bergauf. Die Wartenden erhoben sich ungläubig und empört aus ihren Liege- und Sitzpositionen. Sie rannten auf die Fahrbahn, erhoben die Fäuste, schrien und brüllten lautstark ihren Protest gegen das Überholmanöver. Sie versuchten, den Wagen zu stoppen. Miro aber fuhr fest entschlossen, unbeirrt bergauf und nahm keine Sekunde, auch wenn Menschen auf der Straße standen, den Gasfuß einen Millimeter zurück. Mit völliger Konzentration hielt er die Spur und alle Protestler hechteten förmlich von der Straße. Ich musste nachdenken, ob das ein Film war oder ob ich es wirklich erlebte. Alle schwiegen. Miro fuhr. Wir waren fast auf der Kuppe des Berges angelangt, hinter uns ließen wir eine meuternde Menge zurück. Gleich kam der Schlagbaum. Jetzt mussten wir halten. Zwei weißrot gestreifte Schlagbäume kamen in Sicht. Da war auch noch ein Wassergraben. Vor den Schlagbäumen standen Soldaten und zielten mit ihren Maschinengewehren auf das anbrausende Fahrzeug. Ich konnte sie schon von Weitem sehen. Alle im Wagen hielten die Luft an. Keiner rührte sich einen Millimeter. Jetzt ist es aus, dachte ich. Worauf habe ich mich eingelassen! Mir war klar, dass er nicht bremsen würde, dass er nicht verhandeln würde. Ich war gespannt wie eine Gitarrensaite und konnte nicht klar denken. Ich machte mir kein Bild davon, was passieren würde, wenn wir anhalten würden. Die Meute würde über uns herfallen! Würden wir nicht anhalten, würden die Soldaten mit Sicherheit auf uns schießen!

»Hol die Pässe raus«, schrie Miro angespannt zu mir, ohne den Kopf zu bewegen. »Halte sie aus dem Dach! Beeil dich!«

Meine Hände zitterten, als ich in Höchstgeschwindigkeit die Pässe aus der Tasche holte. Miro verminderte seine Geschwindigkeit nicht.

»Stell dich hin«, schrie er ungeduldig.

Wir hatten nur noch wenige Meter bis zum ersten Schlagbaum. Ich schaute noch fragend, aber dann verstand ich. Ich sollte mich auf den Sitz stellen. Das Schiebedach war schon offen. Aber, wenn ich mit den Pässen in der Hand stand, war ich natürlich die perfekte Zielscheibe für jedes Maschinengewehr.

»Die erschießen mich!«, gab ich verzweifelt zurück. Besam und Loyana schwiegen angespannt.

»Mach endlich!!«

Ich schnallte mich ab, stellte mich auf den Sitz, richtete mich auf, schob meinen Oberkörper aus der Öffnung im Dach. Mit der linken Hand suchte ich Halt am Rand der Öffnung, die rechte Hand streckte ich in den Himmel und hielt zwei weinrote bundesrepublikanische Pässe in die Höhe. In der Position versuchte ich mich schwankend zu halten und hatte gleichzeitig das Gefühl, jeden Moment in den Knien abzuknicken.

Zwei Maschinengewehre waren auf mich gerichtet, und Miro fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Schlagbäume zu. Ich hatte Todesangst. Aber ich blieb stehen. Ich hatte keine andere Wahl. Entweder erschießen sie mich jetzt, dachte ich bei mir, oder sie steinigen, vergewaltigen und erschlagen mich, wenn wir anhalten. Erschießen war die schnellere und schmerzlosere Methode, entschied ich blitzschnell. Die Soldaten sahen neugierig und gleichzeitig ungläubig auf dieses Szenario, nahmen ihre Gewehre hoch und visierten mich an... Ich sah frontal in die Gewehrläufe und erwartete in nächster Sekunde peitschende Schüsse, die mich trafen. Dann wäre Stille um mich! Ich würde schweben, das fühlte ich. Ich hatte die Augen weit aufgerissen hinter meiner Sonnenbrille und fühlte, wie ich mit 90 Stundenkilometern dem sicheren Tod entgegenfuhr. Ich stand. Ich konnte nicht schreien, ich konnte nicht abspringen. Lange habe ich nicht gelebt, war mein letzter Gedanke. Ich wartete auf das Krachen der Maschinenpistolen, das jetzt, jetzt kommen musste!

Das Aus für eine ganz Familie. Blutbad an der bulgarisch-türkischen Grenze - Deutsches Ehepaar und Schwiegereltern brutal erschossen! So würden die Schlagzeilen durch die Presse jagen.

Miro fuhr weiter. Die Sekunden zogen sich minutenlang hin. Der Schuss! Ich kniff die Augen zusammen. Der Schuss! Jetzt!!!