Petra Stödter

Hotel der Engel

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Wenn der Tod das Ende ist,
so leb’ ich, um zu sterben.
Nur versteh’ den Sinn ich nicht,
zu weilen hier auf Erden.

Wenn der Tod ein Anfang ist,
so sterb’ ich, um zu leben.
So herum verstehe ich,
dem Leben Sinn zu geben.

Petra B. Stödter

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»Teresa, wach auf! Teresa, wach auf!« Adrian hatte ihre Träume unterbrochen. Es waren schöne Träume gewesen, und Teresa war ein wenig zornig, sie nicht weiterträumen zu dürfen.

»Wo warst du denn in der letzten Nacht? Da hätte ich dich dringend brauchen können, wahrscheinlich warst du zu feige, um mir beizustehen, während ich Todesängsten ausgesetzt war!«

Vorwurfsvoll schaute sie ihn an, und im gleichen Moment bereute sie beim Blick in seine gütigen Augen ihren barschen Ton.

»Ich weiß, Teresa, es war sehr schlimm für dich, leider hatte ich keinen Zugang zu dir. Sie waren stärker. In der gestrigen Nacht regierte ausnahmslos das Böse.«

»Nun, ich habe es ja überlebt, aber sie haben mich berührt mit ihren ekelhaften Händen. Es war entsetzlich!«

»Es ist vorbei, Teresa. Du bist vollkommen in Sicherheit, und ich werde dich beschützen und dir beistehen. Bist du bereit für unsere Reise?«

»Eigentlich kann ich jetzt auf die Reisen verzichten, es geht mir besser. Ich habe mein Leben komplett in den Griff bekommen.«

Adrian lächelte verständnisvoll.

»Glaube mir, Teresa, selbst wenn es den Anschein haben mag, deine Seele ist noch nicht gefestigt. Jede Reise wird dich stärker machen, das verspreche ich dir.«

Teresa sah in seine wunderschönen gütigen Augen. Sie wollte Adrian auf keinen Fall enttäuschen, schließlich hatte er ihr Leben bereits zum Guten gewendet. Er öffnete auffordernd seine Arme, und sie schmiegte sich bereitwillig in sie hinein, drückte ihren Kopf an seine Brust, um sicher und geborgen die Reise in die Vergangenheit anzutreten.

Toni

»Mama, Mama, bitte wach auf!« Sie war auf das Bett gekrochen und versuchte verzweifelt, ihre Mutter irgendwie zu wecken. Ihre Händchen zerrten an den leblosen Armen, und vor lauter Verzweiflung trampelte sie mit ihren Füßchen auf den Brustkorb der Toten ein.

»Mama, warum wirst du nicht wach?« Niemand hörte ihre verzweifelten Schreie. Das Zimmer war kalt. Es brannte kein Feuer im Ofen. Auf dem blank geschrubbten Tisch lag ein Stückchen angeknabbertes hartes Brot neben einem schmutzigen Teller mit angekrusteter Mehlstippe. Die Nachbarin hatte Toni das karge Mahl gebracht, als sie ihrer sterbenskranken Mutter die Medizin gegeben hatte.

Das war nun einige Stunden her. Jetzt war sie ganz allein, und ihre Mama rührte sich nicht mehr. Sie hatte panische Angst, denn sie spürte, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. Ihr Blick fiel wehmütig auf die alte Nähmaschine in der Ecke. Hier hatte Mama immer gesessen und für fremde Leute genäht. Manchmal arbeitete sie die ganze Nacht hindurch und dann wusste Toni, dass es am nächsten Tag etwas Gutes zu essen gab.

Toni fror und so kroch sie unter die Bettdecke der Toten. Die von Feuchtigkeit durchzogenen Wände mit den hässlichen Flecken und den groben Unebenheiten, die durch den abgefallenen Putz verursacht wurden, verströmten im Zimmer einen muffigen, modrigen Geruch.

Das kalte Mondlicht, das gnadenlos durch die Fenster schien, tauchte diesen Ort des Jammers in ein gespenstisches Licht. Toni war erschöpft, und so schlief sie neben der Toten ein.

Erst am nächsten Morgen bemerkte die Nachbarin den Tod der Mutter. Toni schrie entsetzlich, als man die Leiche teilnahmslos in eine Bretterkiste legte und hinausbrachte.

Es tobte ein heftiges Schneegestöber. Toni rannte verzweifelt zum Fenster, stellte sich auf die kleine Fußbank, versuchte mit ihrem warmen Atem die Eisblumen der Fensterscheibe ein wenig aufzutauen, bis sie endlich auf die Straße hinausschauen konnte. Dann sah sie, wie man die Bretterkiste, in der ihre tote Mama lag, auf einen Pferdekarren lud. Schnell hatte der Schnee den Sarg mit einer weißen dichten Decke zugedeckt, und Toni dachte in diesem Moment erleichtert, dass ihre Mama nun nicht mehr frieren müsse. Weinend und nach ihrer Mutter schreiend, schaute sie dem Karren hinterher, solange, bis er hinter der nächsten Häuserecke verschwand. Es war drei Tage vor Weihnachten.

*

»Kannst froh sein, du undankbares Gör, dass wir dich damals bei uns aufgenommen haben. Du wärst garantiert in einem Waisenhaus gelandet, wenn wir nicht so viel Mitleid mit dir gehabt hätten!«

Tante Pauline war mal wieder in ihrem Element. Wenn sie Ärger hatte, dann ließ sie ihre Wut an Toni aus. Zehn Jahre lebte Toni nun bei ihren Verwandten, und in dieser Zeit hatte man es sie oft genug spüren lassen, dass sie zwar geduldet, jedoch nicht erwünscht war.
Onkel Max, Mutters Bruder, versuchte zwar, gut zu seiner Nichte zu sein, aber gegen seine dominante Frau konnte er leider nichts ausrichten.

Toni musste Tante Pauline im Haushalt zur Hand gehen, das war von jeher so gewesen. Sie konnte weder lesen noch schreiben, denn die Schule hatte sie kaum besuchen dürfen.

Schon als kleines Mädchen hatte Tante Pauline sie von früh bis spät im Haushalt eingespannt. Wie gerne hätte Toni sich eine Dienstbotenstelle mit Kost und Logis in einem gutbürgerlichen Haushalt gesucht, aber Tante Pauline gab ihr keine Erlaubnis dazu. So war sie dazu verurteilt, auf ewige Zeiten das Dienstmädchen für Arme zu spielen. Das Leben in dieser schäbigen Wohnung wurde zusehends unerträglicher. Wilhelm, ihr ältester Vetter, konnte die Hände nicht von ihr lassen. Toni musste nachts in der Küche auf der alten durchgesessenen Couch schlafen. In der Nacht, wenn die anderen tief und fest schliefen, kam Wilhelm zu ihr und trieb seine widerlichen Spielchen mit ihrem Körper. Sie ekelte sich zutiefst vor diesem grobschlächtigen hässlichen Kerl und vor den schmutzigen Dingen, die er mit ihr trieb. Niemandem konnte sie sich anvertrauen, sie hatte schreckliche Angst vor Wilhelms Drohungen. Er würde sie töten, wenn sie jemals den Mund aufmachen würde. Das hatte er ihr nachhaltig zu verstehen gegeben.

Toni war erst sechzehn Jahre alt, als sie ein Kind von Wilhelm erwartete. Tante Pauline war außer sich, und sie beschimpfte Toni als gemeines Flittchen.

»Du bist nicht besser als deine Mutter! Ich sage ja immer, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Es wäre das Beste für uns alle, wenn du auf der Stelle das Haus verlässt. Heute hast du Wilhelm verführt, und morgen ist es vielleicht unser Franz. Das ist nun der Dank dafür, dass wir all die Jahre so selbstlos zu dir gewesen sind! Es war für uns schwer genug, einen Esser mehr am Tisch zu haben!«

Toni stand weinend da und traute sich nicht, etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen. Tante Pauline hätte ihr sowieso kein Wort geglaubt. Sie hatte seit jeher die Rolle des Sündenbockes in dieser Familie spielen müssen. Onkel Max blickte reumütig zu Boden. Er wusste genau, dass sein Sohn Wilhelm in der Seele nichts taugte. Aber er hatte viel zu viel Angst vor seiner Frau, um Toni in dieser Situation helfen zu können.

»Pack auf der Stelle deine Sachen, ich will dich hier nicht mehr sehen!«, kreischte Tante Pauline.

»Wo soll sie denn hin?« Endlich traute sich Onkel Max, etwas zu sagen.

»Das ist mir ganz egal. Wenn sie weiß, wo es lang geht, um Kinder in die Welt zu setzen, dann muss sie genauso wissen, wie man sich allein durchs Leben schlägt.«

Tante Pauline blieb unerbittlich.

Es war bereits dunkel und Toni lief ziellos durch die Straßen. Wo sollte sie hin? Sie hatte kein Geld. Ihre Augen brannten, sie musste immer noch weinen. Verschämt versuchte sie, sich das Wolltuch, das sie um die Schultern trug, etwas vor das verquollene Gesicht zu ziehen. Wie gern hätte sie sich jetzt in ein Bett gelegt, um erst einmal über die ganze Sache zu schlafen.

Bald war Weihnachten und danach würde ein neues Jahr beginnen, das Jahr 1911. Nun stand sie mitten in Berlin, ohne Geld und obendrein schwanger, und erneut zeigte sich das Schicksal von seiner schlimmsten Seite. Ihr kam der Gedanke, dass es für sie das Beste wäre, für ewig zu schlafen. Sie war so unendlich müde, und was würde sie schon aufgeben? Ihr Leben war nicht lebenswert, der Tod konnte nur besser sein.

Plötzlich erblickte sie ein heranfahrendes Fuhrwerk. Es ging ganz schnell, dann wurde es dunkel und still um sie.