Martin Lenz

Die Leiden des Herrn Labrowitz




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»Hallo«, wurde er aufgeschreckt. »Da drüben sitzt ja mein Vater.«

Alle Gesichter drehten sich dem aufgeschreckten Lektor zu.

Er musste reagieren, erhob sich, schritt zur Kasse, zahlte, und dabei fiel ihm ein Geldschein zur Erde. Die flinke Auffangbewegung verriet jugendlichen Schwung, und so zog er an der räudigen Gruppe vorüber, wollte vorübergehen, wollte eine Chance geben, wollte nichts gesehen, nichts gehört haben, aber Gundula ließ das nicht zu.

»Ich hatte gerade vor, zu dir zu kommen, setz dich her. Los, Wimpert, reg dich, hol einen Stuhl für meinen Vater an den Tisch.«

Wimpert, ein blasser Mann mit breiten, schwammigen Backen, hohem Haaransatz und geröteten Augenrändern, bog sich etwas seitlich, zog einen Stuhl vom Nachbartisch ab und schob ihn Gundula zu. Wortlos führte er einen minimalen Gehorsam vor, während die beiden anderen strickbemützten Mädchen sensationslüstern auf den plötzlichen Vater schauten, in ihre Lippen bissen und die Ohren spitzten. Die eine von ihnen hatte sich das Baby bäuchlings über ihr Knie gelegt und kraulte ihm den Rücken.

Gundula beobachtete mit lustigen Äuglein ihren Vater, der unwillig einem Pflichtgefühl nachgab und zögernd Platz nahm. Sie schien etwas getrunken zu haben, und er fragte nach dem Befinden.

»Mir, och, mir geht es gut. Frag Stella und Tikki, uns geht es ausgezeichnet. Kannst auch Wimpert fragen. Wimpert ist jetzt unser Familienoberhaupt, gewählt und anerkannt. Guck nicht so dämlich, Wimpert. Es ist doch so. Brauchst meinen Vater gar nicht anzuglotzen, der tut dir nichts.«

Wimpert stierte den Lektor an, die Augen geweitet, den Mund verkniffen. Wut und Abweisung sprachen aus seinem Gesicht.

Labrowitz wollte den jungen Mann übersehen und keine Empörung zeigen über Gundulas Umgang. Seine Tochter dagegen spürte wohl, was in ihrem Vater vorging, und darum verteidigte sie ihre Welt.

»Wir managen in der Stadt das Tierheim, wie du weißt. Wir schützen die vielen kleinen Wesen, die ausgestoßen oder misshandelt und gequält werden von den Wohlstandsbürgern. Bei uns finden sie ein Zuhause, aber es kostet und darum: Money, money, ich brauche Geld, runde Summe, ein Tausender. Ich habe Anspruch darauf.«

Labrowitz hatte nicht vor, sich auf Diskussionen einzulassen. Er hätte seine Tochter zu gern herausgeholt aus dem Sumpf, in den sie geraten war. Er hätte zu gern mit ihr gesprochen, ausführlich und unter vier Augen, aber nicht hier, hier war alles Theater, was sie sagte, hier produzierte sie sich vor ihren lausigen Genossen.

»Wenn dir meine Monatsüberweisung nicht reicht und du glaubst Anspruch auf größere Beträge zu haben, warum kommst du nicht mit einem Anwalt? Du hattest es einmal angedroht.«

»Wo denkst du hin? Anwalt käme dich noch teurer. Ich bin für die gütliche Einigung. Wir sind friedliche Menschen und mit fünfhundert Euros kann ich kaum meinen gewohnten Lebensstandard aufrecht halten. Ich bin ein sehr bescheidener Mensch, wirst du zugeben. Also?«

»Willst du es in bar?«

»Muss nicht sein. Überweise tausendfünfhundert ans Tierheim, als Spende. Du könntest es bei der Steuer absetzen als besondere Belastung. Das müsste ich dir schließlich wert sein, eine kleine >besondere Belastung<. Guck nicht so gequält, wir nehmen dir nichts weg.«

Das Baby wechselte die Mutter und Gundula setzte ihr schelmisches Gesicht auf, das ihn früher immer erweichte, das unter der jetzigen Maskerade aber nur eine Fratze hergab.

Sie tat ihm leid. »Tausendzweihundert vielleicht, mehr ist nicht drin.«

»Dass ich nicht lache, zwei Gehälter und keine tausendfünfhundert Kröten locker, wo gibt es denn so was?«

»Wir würden dich gern unterstützen, wenn du eine Berufsausbildung angingest. Du weißt das.«

»Mensch, Berufsausbildung, was ist denn das heutzutage? Guck dir Wimpert an. Der Mann hatte Frau und Kind und eine Massagepraxis, ausgebildeter Masseur, und was ist? Jetzt liegt er auf der Straße. Seine Tussi hat ihn an die Luft gesetzt, und wir müssen uns um ihn kümmern. Wir bemuttern jedes Tier, das ausgesetzt und misshandelt wird. Wimpert hat den schönsten Posten bei uns bekommen, Familienoberhaupt und Chauffeur und einen Liter Whisky im Monat, streng rationiert. Bei uns herrscht Ordnung. Das müsste dir doch gefallen.«

Gundula hatte Farbe bekommen. Die anderen beobachteten still den Vater und die Tochter, die ihr Redetalent vorführte.

Das hat Gundula von mir, dachte Labrowitz.

Das Mädchen plapperte weiter und schien sich ihrer zuweilen gewählten Ausdrucksweise zu schämen. Darum fügte sie ständig provozierende Wörter ein, die sie wohl auf der Zunge haben musste, um in ihrer neuen Familie anerkannt zu werden. So verbreitete sie einen wenig schönen Tierheimgeruch, der dem Vater in die Nase stach. Sie tat, als merke sie es nicht, und trumpfte weiter auf.

»Wir sehen uns als Neandertaler, musst du wissen, als moderne Urmenschen, aber doch Menschen zumindest, während sonst die Menschheit ausgestorben ist, zu Holz, zu Stein, zu Kotzbrocken verwandelt. Eine Eiszeit ist aufgezogen. In den Straßen eine enorme Hektik, aber alles tot. Du glaubst es nicht, guck dich nur um: Eis quillt aus jeder Ritze, Eis und Scheiße, und das bei der allgemeinen Erderwärmung. Das muss man sich einmal vorstellen. Wo bleibt da die Logik und Mutters Schulweisheit? Ihr könnt das nicht verstehen, das geht nicht in eure Köpfe rein, kann gar nicht, weil ihr unter einem Eisberg liegt, gefühlstot unter einem Eisberg von Intelligenz. Dabei ist es ganz einfach. Spezialeis ist aufgekommen, eine Mischung aus Kotze und tiefgefrorenem Stickstoff, eine besondere Art der Verhärtung der Natur. Das Eis wächst in der Wärme des Gedärms und knackt deine Logik. Du bist noch warm, aber schon tot und das Gehalt wird weiter auf dein Konto überwiesen. Das funktioniert, sogar bei fünfzig minus.«

Labrowitz stand auf. Er fühlte eine Beklemmung, fasste sich an die Brust und wandte sich ab. »Ich habe einen Beruf, und der ist nicht einfach. Ich muss arbeiten, trotz der minus fünfzig Grad. Ich überweise dir etwas und wünsche euch eine warme Höhle.«

»Wir müssen auch arbeiten!«, rief sie ihm lachend nach.