Günter Kükenshöner

Dresden UND Queißer UND Krimi UND Internet




I

Queißer mußte widerstandslos über sich ergehen lassen, wie ihm vom Professor Arme, Oberkörper und Beine an den harten Holzstuhl gefesselt wurden. Er war einfach zu schwach, sich zu wehren oder auch nur ein Wort des Protests zu äußern. Eben erst trieb er, aus tiefster schwereloser Bewußtlosigkeit kommend, in die neblig-wabernde Wirklichkeit empor. Schwer zu fassen, wie der Professor da mit ihm hantierte wie mit einer Gummipuppe. Wäre ihm nicht speiübel gewesen vom schaukeltrunknen Auftauchen, hätte er am liebsten gelacht über die Sorgfalt, mit der der Professor ihn ans Holz band mit Mullbinden um und um. Die Unterarme auf die Lehnen geschnallt? Die Waden an die Stuhlbeine? Wie dumm der Professor doch war! Queißer war davon überzeugt, er könne, sobald er wieder allein wäre, die nicht fühlbaren Gliedmaßen, die ach so fernen, einfach abschrauben, und damit hätte diese freche Geiselnahme ein Ende. Über Ersatzarme- und Beine machte er sich noch keine Gedanken, die bekam man heutzutage nachgeschmissen!

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Der Professor war noch nicht wiedergekommen. Inzwischen mußten einige Stunden vergangen sein, und Queißer war wieder bei vollem Bewußtsein. Er saß noch immer gefesselt auf dem Stuhl. Vor ihm stand, direkt vor einer stummen, weiß gekalkten Wand, eine Art Campingtisch mit einem Rechner darauf. Der Bildschirm war schwarz, nur ein sehr schwaches Licht spiegelte sich in dem Glas: eine Notbeleuchtung? Ansonsten schien der Raum leer zu sein. Ein Keller vermutlich, da er keine Fenster hatte. Außerdem roch die Luft feucht-muffig, und im Nebenraum sprang in gewissen Abständen eine Heizungsanlage an: klack-whhuusch.
Was hatte der Professor bloß mit ihm vor? Wozu das alles? Warum wurde er wie ein Gefangener, wie eine Geisel behandelt? Der Professor konnte doch unmöglich ahnen, warum sich sein Leberpatient Queißer ausgerechnet in diesem fernen, westphälischen Städtchen herumtrieb, konnte nicht wissen, daß sein Freund Jürgen hier wohnte. Wieso der Weißkittel plötzlich muckerte, daß mit seinem Patienten Queißer nicht alles mit rechten Dingen zuging, ja, daß "die Leber" ein von höchster Krankenkassenvereinigung bestallter Spion war, war schon merkwürdig. Dabei hatten die Kranken-kassenbonzen Stein und Bein geschworen, daß der Paracetamol-Mix, den man ihm verabreichen wollte, seine Werte lediglich wie bei einer normalen Krankheit durcheinanderbringen würde, mehr nicht. Für einige Wochen sei das nicht mal schädlich. Doch welchem Arzt durfte man noch trauen? Da brauchte man bloß an die Herzklappengeschichten zu denken, und daß zu jeder Kinderschänderbande immer auch ein Arzt gehörte. Wozu schworen die eigentlich den Eid des Hippokrates?

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Wäre gut, wenn der Herr Professor Doktor endlich kommen würde, dachte Queißer. Allmählich wurde es ungemütlich: Vom steifen Sitzen schmerzte der Rücken. Unter den Mullbinden begann es fürchterlich zu jucken. Außerdem wurde ihm kalt, trotz der Heizung im Nebenkeller, da er unbeweglich saß mit nichts an außer einer weißen Doppelripp-Garnitur. Wie gut, daß weder Sylvie noch Marianne, die Apothekerin, ihn so sahen! Selbst in dieser Notsituation schämte er sich ein bißchen, daß er zwar neuerdings mit Schlips und Kragen herumlief, aber darunter noch immer Altlasten aus seiner Kölner Zeit trug. Dabei hatte seine Mutter schon immer gesagt: "Denk daran, wenn du mal plötzlich ins Krankenhaus mußt!" Ja, ja: Frauen können auf ihre Art sehr pragmatisch sein. Ach, die Erinnerungen an die wenigen Frauen in seinem Leben, die ihn beim Gedanken an seine Mutter überkam, machten die jetzige Ohnmacht und Schande hier im Kellerloch nur um so schlimmer, standen die Frauen doch symbolisch für das Leben da draußen, für Schönheit, Wärme und Glück — selbst wenn es meistens nur bei der Sehnsucht danach geblieben war.
Knrr. Queißers Magen meldete großen Hunger an.

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"Geh mit ihr zum Inder", hatte Jürgen zu ihm gesagt, "die indischen Gewürze — Ingwer, Kreuzkümmel, Chili undsoweiter — machen Frauen ganz heiß, glaub mir!"
Übers Branchenverzeichnis hatte Queißer schließlich ein Restaurant ausfindig gemacht, nicht weit vom Neustädter Bahnhof, mit Panoramablick direkt auf den Bahndamm. Da es abends früh dunkel wurde, würde es der Dame hoffentlich nicht viel ausmachen. Sie schien ohnehin kulinarisch nicht sehr anspruchsvoll zu sein. Eine Computer-Maus ißt am liebsten Chips, hatte sie ihm gemailt. Solange es sich dabei nicht um Bahlsen oder Chipsfrisch handelte und sie dementsprechend rundlich und am Hintern pickelig war, mochte sie von ihm aus essen, was sie wollte. Dem gif-Photo nach zu urteilen, das sie ihm auf seinen Rechner plaziert hatte, war sie durchaus eine elegante und formschöne "Maus", das mußte man ihr lassen. Hoffentlich war sie es selbst und nicht etwa ein eingescanntes Model; und zeigte das Bild tatsächlich sie selbst, war sie dann auch "handlich"? Ließ sie sich gut "händeln"?

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Diese und ähnliche Fragen galt es beim Treffen mit seiner ersten Internet-Bekanntschaft zu klären. Er hatte sich fest vorgenommen, ein neues Leben anzufangen, nicht mehr so altmodisch und so fürchterlich sentimental zu sein, sondern sich mehr der neuen Zeit zu öffnen: nicht immer nur meckern und den Teufel an die Wand malen! Jeder muß sich kümmern. Ein bißchen hatte er in den fünfzehn Jahren, die er in Köln gelebt hatte, gelernt. Dazu zählte die Einsicht, daß Freiheit bedeutet, daß jeder zuerst für sich selbst sorgen muß. Er war wild entschlossen, diese Erfahrungen nach seiner Rückkehr in seine Geburtsstadt umzusetzen. Beruflich war ihm das bisher geglückt, warum nicht im Privatleben genauso?

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Nun saß er also seiner chipsfressenden Colani-Maus gegenüber. Was am Bildschirm noch so einfach gewesen war, gestaltete sich beim Inder als durchaus problematisch: das "Tschätten" nämlich.
Queißer: Wie war die Fahrt mit dem Zug?
Sylvie: Ganz okay so.
Queißer: Müde?
Sylvie: Nö, geht so.
Pause.
Queißer: Hatte ich dir nach deinem Photo schon gemailt, daß ich finde, du bist die schönste Computermaus, die ich kenne?
Sylvie: Nö-ö.
Kichern.
Sylvie: Findste? Bin ich denn kom-ba-ti-bel?
Wieder Kichern. Essen. Schweigen.
Queißer: Ganz schön scharf, was?
Sylvie: Jo, ganz schön, irgendwie.
Queißer: Jürgen, das ist ein Freund von mir, hat gesagt, indisches Essen macht schlank.
Sylvie: Findest du mich zu dick?
Queißer: Nein, nein, das wollte ich damit nicht sagen, ich meine nur, hast du schon mal einen dicken Inder gesehen?
Sylvie: Nö, aber die ham ja auch nichts zu mampfen da unten.
Queißer fragte sich ernsthaft, ob es nicht für beide besser sein würde, wenn Sylvie noch am selben Abend einen Zug zurück nach Berlin nehmen würde. Nicht daß sie schlecht aussah, im Gegenteil! Aber es war halt doch etwas anderes, wenn man mit einem leibhaftigen Menschen zu tun hat und nicht mit der Anonymität am Bildschirm. Ein Chat wie der von gestern ließ sich nun mal nicht im Restaurant wiederholen:
Sylvie: Wie findest Du die Farbe rot?
Queißer: Hmm, süß wie Erdbeeren!
Sylvie: Rate mal, was ich gerade anhab?
Queißer: Ein rotes Nachthemd?
Sylvie: Nicht schlecht, aber noch süßer!
Queißer: Ein erdbeerrotes Nachthemd?
Sylvie: Kein Nachthemd!
Queißer: Eine erdbeerrote Küchenschürze?
Sylvie: Quatsch! Was Geileres.
Queißer: Doch nicht etwa Strapse?
Sylvie: Ein Gummipunkt für Dich! Die ziehe ich dann an, wenn ich komme, ja?

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Als nächstes rief der Professor ein Programm auf, das unter leisem Schnarren irgendwo im Rechner startete und den vorher schwarzen Bildschirm mit einer leuchtenden, gelblichen Farbe übertünchte. Mit dem Hinweis, es mache nichts, wenn Queißer ihn noch nicht recht verstanden habe, da das Programm "selbsterklärend" sei, verschwand der Professor wieder. Für einen Augenblick übertönte das Rauschen seines Kittels die elektronischen Geräte.

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Queißer war wieder allein. Vor ihm leuchtete ein kräftiges Giftgrün als Hintergrundfarbe, darauf ein bißchen Schrift, ein bißchen Graphik, eine Graphikanimation sogar. In großen, schwarzgezackten und weißumrandeten Buchstaben stand dort der Name des aktuell geladenen Programms mit wünschenswerter Eindeutigkeit: EU-DEATH.
Das verstand selbst Queißer, dessen Englischkenntnisse das Niveau eines Viertkläßlers nicht überstiegen. Darunter auf der linken Seite eine simple deutschsprachige Frage, rechts daneben eine stilisierte Sanduhr. Geräuschlos rieselte darin ein hauchdünner Strom weizengelber Sand-Pixel von oben nach unten, wo sich ein kleines, kegelförmiges Häufchen bildete. Im TV- und Computerzeitalter benötigte man halt solche bildlichen Spielereien, sonst wurde womöglich die geschriebene Frage nicht verstanden: Sie möchten sterben? Darunter in kleinerer Schrift: Drücken Sie y(ja) oder n(ein).
Falls man nach einer gewissen Zeit keine Taste drückte, würde das Programm automatisch die bejahende Antwort annehmen und die Apparatur zur letalen Injektion veranlassen, hatte der Professor gesagt, denn schließlich konnte man bei den Käufern von EU-DEATH von einem starken Selbsttötungswillen ausgehen, sonst hätten sie es sich erst gar nicht beschafft. Daß ihre famose Software auch als Folter- ja, als Mordinstrument mißbraucht werden konnte, wie es Queißer nun am eigenen Leib zu spüren bekam, das war den Kaugummi schmatzenden Programmierern im heiter-sonnigen Kalifornien — oder den billigen in Indien, die von amerikanischen Software-Giganten ausgebeutet werden — wohl nicht in den Sinn gekommen. Aber so ging es immer: Selbst die Leute, die damals vor fünfzig Jahren die Atombombe gebastelt hatten, hätten niemals damit gerechnet, daß sie auch geworfen würde. Schon gar nicht fühlten sie sich hinterher dafür verantwortlich!