Werner Koschan

Götterdämmerung im Feuersturm






17.


Direkt am Wasser hockt eine Person im Schlamm, den Kopf in die verschränkten Arme gesenkt und dieser Kopf ist kahl, aber nicht so, als wären die Haare verbrannt, sondern rasiert. Das zieht natürlich meine Aufmerksamkeit auf sich. Um die Schultern schlottert ein dünner Stoffmantel. Ein kahl rasierter Kopf und dazu eine armselige Gestalt assoziiert sofort Gefangener oder Zwangsarbeiter. Na, überlege ich, wenn in diesem Moment eine Streife vorbeikommt, ist es für den armen Teufel aus mit der Freiheit und noch mehr. Ich trete zu dem Mann.

»Jetzt lassen Sie sich doch nicht so hängen, Mann!«, spreche ich den Hockenden an. Der hebt den Kopf und macht Anstalten, fluchtartig aufzuspringen. Die Blicke erinnern an gehetztes Wild. Ich trete einen Schritt zurück, hebe die freie Hand mit der Handfläche voraus. »Keine Angst, mein Lieber.« Dann stutze ich. Das ist überhaupt kein Mann. Der Schädel ist geradezu modelliert, die Lippen weich, die Augen tiefblau und groß. Das ist eine Frau, und was für eine! Trotz des rasierten Schädels drücken die Züge wirkliche Schönheit aus. »Gute Frau, Sie können nicht so herumlaufen«, sage ich und wische mit der Hand über meinen Kopf.

Sie sucht mit flinken Augen die Umgebung ab. Ihre Gesichtszüge erinnern mich irgendwie an den Tschechen. Meinen Glücksbringer. Was mag wohl aus ihm geworden sein? Und aus Carola? Bloß nicht dran denken.

»Würden Sie mir einen Gefallen tun?«, frage ich und trete einen Schritt näher zu ihr. Sie zuckt. Gibt es eigentlich irgendeinen Menschen in diesem Land, der keine Angst hat? »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, aber so können Sie nicht weiter.« Angstvoll geweitete Augen suchen ganz offensichtlich nach einer Fluchtmöglichkeit vor mir. Ja, zum Henker, sehe ich denn aus wie einer von jenen? »Ich tue Ihnen nichts.« Ich hebe erneut beschwichtigend die Hand. »Können Sie mich verstehen?«

Sie schaut weiterhin recht zweifelnd, und nickt kurz. »Tak. Ja.«

»Tak? Tak ist Polnisch, nicht wahr? Sie kommen aus Polen?«

»Tak.«

»Wo wollen Sie hin?«

»Zuchause.«

»Nach Polen? Über die Reichsgrenze? Oha. Na, da haben Sie sich ganz schön was vorgenommen.« Oh weh. Welch ein aussichtsloses Unterfangen. Dagegen sieht meine Lage ja geradezu golden aus. Vielleicht hat sie ja trotzdem Glück; doch zunächst muss sie unbedingt ihren Kahlkopf verstecken. Ich ziehe die Autofahrerkappe vom Kopf und reiche sie der Frau. »Setzten Sie sich mal die Kappe auf!«

Sie schaut erst die Kopfbedeckung an, dann mich. Endlich greift sie nach der Kappe und setzt sie auf den kahlen Schädel.

»Das sieht schon wesentlich besser aus«, stelle ich fest. »Und jetzt ziehen Sie den Schirm tief ins Gesicht!« Ich stelle den Koffer zwischen meine Beine und mache eine entsprechende Handbewegung. »Na also, sieht gleich noch viel besser aus.« Ob die Verkleidung allerdings ausreichen wird, um über die Grenze zu kommen, halte ich für unwahrscheinlich. Ein hübsches Mädchen und so vollkommen chancenlos. Eine Schande.

»Nach Polen kommen Sie im Augenblick kaum. Mädchen, hören Sie auf zu träumen und schauen Sie den Tatsachen ins Gesicht. Hier in dem Durcheinander sind Sie viel sicherer. Verstecken Sie sich und warten ab, bis die Russen kommen. Können Sie Russisch?«

Sie schürzt leicht die Lippen. »Tak. Ja.«

»Prima«, sage ich und wundere mich über mich selbst; wie rede ich eigentlich? Keine Ahnung, wie ich mich selbst aus dem Dreck ziehen soll und trotzdem gebe ich anderen Leuten kluge Ratschläge. Ist ja fast wie früher, als ich den Leuten juristische Ratschläge verkauft habe. Apropos verkauft. »Haben Sie Geld?«

Wie nicht anders zu erwarten, schüttelt sie den Kopf. Die Geldscheine, die Fräulein Behr mir vorhin geschenkt hat, drücke ich nun der Polin in die freie Hand. »Sie sind jung, Sie sind hübsch, sehen Sie zu, dass Sie überleben. Verstecken Sie sich bei irgendeinem Bauern. Geben Sie ihm etwas Geld dafür, für Geld tun Deutsche alles. Und wenn es sich um einen netten Bauern handelt, verdrehen Sie ihm den Kopf. Kapiert?«

Sie wirkt nachdenklich. Bestimmt übersetzt sie meine Worte im Stillen und schmunzelt schließlich wie ein Schulmädchen, spitzt die Lippen und deutet einen Kuss an. »Karaschow? Gutt?«

Ach so, sie will beweisen, dass sie Russisch kann. »Ja!« Ein paar Schritte weiter liegt eine Aktentasche im Schlamm und ich habe eine Idee. Ich hebe die Tasche auf, verflucht, kein Boden. Na, wenn schon. Ich drücke dem Mädchen die Tasche in die Hand. »So, nun sehen Sie wie ein Flüchtling aus, fällt in dem Gedränge hier gar nicht auf. Dass das Ding im Eimer ist, ist egal. Na los, Mädchen, mach dich auf den Weg. Immer die Elbe lang.«

Sie schaut reichlich verständnislos.

»Was ist?«, frage ich. »Haben Sie mich verstanden?«

»Habbe värstanden. Was Älbä?«

»Na der Fluss hier, Wasser. Jetzt du da lang«, ich rede automatisch lauter und wie jemand, der nur wenig Deutsch kann, als würde sie mich deswegen besser verstehen können. Dabei schiebe ich sie elbaufwärts. »Du gehen da lang bis Pillnitz oder Pirna oder noch weiter. Bauernhof! Was heißt Bauernhof auf Polnisch? Muh, muh, kikeriki! Viel, viel Glück«, wünsche ich. »Doswidanje, nee, das ist Russisch.«

Aber sie versteht ja Russisch.

»Do widzenia«, sagt sie.

»Ach so, ja. Do widzenia. Masseltov.«

Mein Glückwunsch scheint sie etwas zu irritieren. Sie nickt lächelnd. Nun ja, möglicherweise wird ihr ja das angenehme Äußere weiterhelfen. Auf alle Fälle muss ich mir weitere Patzer mit jüdischen Redensarten schleunigst abgewöhnen. Dann gehe ich selbst weiter die Elbe entlang und schaue dem Mädchen nach, bis sie in der Menge nicht mehr zu unterscheiden ist.

Es regnet inzwischen ausgiebiger, mein Hemd klebt vom Regenwasser auf der Haut und jetzt beginne ich trotz der Brände ringsherum richtig zu frieren. Das Gepäck scheint von Minute zu Minute schwerer und schwerer zu werden. Ich klettere über eine gemauerte Umzäunung eines Gartens hinauf bis an die abgestürzte Befestigung einer Terrasse. Vielleicht kann ich mich hier ein wenig unterstellen. Das dazugehörige Haus brennt lichterloh und das freut mich ungemein. Die Bonzenvillen sind nicht verschont geblieben. Das wird den hohen Herrschaften nicht sehr gefallen. Die Luft um das Gebäude herum glüht. Auf der Terrasse entdecke ich mehrere Koffer. Trotz der Hitze nähere ich mich diesen Koffern.

»Hallo!«, rufe ich vorsichtshalber. »Ist da jemand? Kann ich helfen?« Niemand antwortet, lediglich das Feuer prasselt. Die Hitze lässt meine nasse Kleidung förmlich kochen. Wenn tatsächlich irgendjemand im brennenden Haus ist, wäre er sicherlich nicht mehr zu retten. Aber soll man um Nazis trauern? Kommt ja gar nicht infrage. Lieber mal nachschauen, was so herumliegt.

Ich öffne einen der Koffer. Darin Damenkleidung, Bettwäsche, Unterwäsche. Mist. Der zweite Koffer ist sogar abgeschlossen. Zweimal Mist! Im dritten Koffer finde ich einen Herrenanzug, Schuhe und ganz oben drauf einen Mantel. Na also. Masselmolch, der ich bin. Die Anzugjacke und der Mantel sind mir zwar zu groß, doch einem geschenkten Gaul ... Ich schlüpfe in die Sachen, belade mich mit Rucksack und Koffer, und rutsche zum Uferweg hinunter. Ich unterscheide mich nun tatsächlich kaum von den anderen Leuten. Je weiter ich mich auf dem Uferweg von der Stadt entferne, desto geringer peinigt die Hitze, und sogar etwas windgeschützter ist es. Der Regen nimmt zu und der Boden entwickelt sich zu einer glitschigen Schlammbahn. Die brennende Stadt leuchtet bis hierhin taghell.

Mir kommt es so vor, als ob immer mehr Menschen am Elbufer eintreffen. Sie stehen und sitzen einzeln oder in Gruppen und machen nichts anderes als zuzuschauen, wie Dresden brennt. In der Nähe nichts als Feuer, in der Ferne ausschließlich Feuer - überall nichts als gleißendes Feuer. Brennende Dächer, von Feuern hell erleuchtete Fensterrahmen und berstende Mauern. Das vom Regen dampfende Denkmal auf der Brühlschen Terrasse erweckt in dieser Hölle einen höchst seltsamen Eindruck - ein dampfender Mann. Ein Wahrzeichen großartiger geschichtlicher Bedeutung, der jetzt das wohl Bedeutungsloseste ist, was existiert.

Neben dem Wasser liegen Wackersteine aufgeschichtet. Sicherlich war seinerzeit mal geplant gewesen, den Uferweg zu befestigen. Aber in unserer großen Zeit bleibt weder Zeit noch Geld, eine solche Arbeit durchzuführen. Mir kommt der Haufen gerade recht. Ich stelle den Koffer auf die Steine und setze mich darauf. So kann ich ein wenig dösen, bis der Morgen dämmert und ich komme wenigstens nicht mit dem Matsch in Berührung. Man ist ja schon für Kleinigkeiten dankbar. Ich überlege, ob ich mein Gepäck nicht im Keller irgendeines Gebäudes verstecken soll. Dann könnte ich mich zumindest etwas freier bewegen und nach Carola suchen. Ach Unsinn, lieber nichts riskieren und in Ruhe abwarten. Mein Gott, bin ich hundemüde. Ich kann kaum die Augen aufhalten. Und zu allem Übel puckert mein Gesicht jetzt wieder schmerzhaft im Rhythmus des Herzschlags. Wie spät mag es wohl sein? Was soll es, ich werde früh genug merken, was mir die Stunde geschlagen hat. Meine Gedanken kreisen immer schneller nur um mich selbst, obwohl ich weiß, dass das endlose Grübeln nichts bringt. Ohne dass es mich berührt, sehe ich, dass über der brennenden Stadt der Morgen zu dämmern beginnt. Ich habe so sehr auf die Dämmerung gewartet und weiß jetzt nichts damit anzufangen.

Mit den lächerlichen zur Verfügung stehenden Mitteln wird die Stadt an diesem frühen Mittwochmorgen nicht einmal annähernd gelöscht werden. Ich stehe vom Steinhaufen auf, recke mich, wandere planlos zurück in Richtung Brühlsche Terrasse und beobachte ein paar Leute, die mit Eimern Wasser aus der Elbe holen und versuchen einen Brand zu löschen. Vermutlich versuchen sie, ihr eigenes Haus zu retten. Aber sobald das Wasser die Flammen gelöscht hat und die Leute zur Elbe eilen, um neues Wasser zu holen, entzündet sich das Ganze in einer Verpuffung sofort wieder und selbst der Regen hilft keine Spur. Dresden wird wohl auch an diesem 14. Februar eine lodernde Fackel bleiben.

Die Terrasse, ja das ganze Elbufer wimmelt von hierhin oder dorthin gehenden Menschen. Nicht zu schätzen, wie viel Tausende Leute unterwegs sind, wie die Ameisen. Was mache ich nun? Weiter die Elbe abwärts? In die Neustadt und schon mal nach dem gelben Haus in der Forststraße suchen? Oder in die Altstadt zurück? Irgendeine unerklärliche Anziehungskraft drängt mich nach Hause. Ein letztes Mal möchte ich bei Tageslicht schauen, was davon übrig geblieben ist. Das mache ich!

Der Weg gestaltet sich wie ein mörderisches Hindernisrennen. Nicht nur, dass die Straßen durch noch mehr Schutt und Trümmer versperrt sind, herabstürzende brennende Balken und ganze Dachstühle bilden beim Überklettern der Hindernisse eine unabsehbare Gefahr. Der kochende Straßenasphalt glänzt flüssig. Ohne Warnung stürzen ganze Gebäude von einer Sekunde zur anderen in sich zusammen, glühende Steine und brennendes Holz fliegen bis auf die Straße und durch die mitgeführte Luft entzündet sich der Asphalt. Die hochspritzenden Feuertropfen entzünden wiederum Haare, Kleidung, Strümpfe und Gepäck. Das Grauen ist so aufwühlend, dass ich kopflos immer weiter gehe. Namen kann ich den zerstörten Straßen nicht zuordnen.

In einer mir vollkommen unbekannten breiteren Straße mit gepflasterten Bürgersteigen klettert unmittelbar vor mir ein etwa zehnjähriger Junge in den üblichen kurzen Hosen und Pimpfjacke mit Kniestrümpfen an den nackten Beinen über einen Trümmerhaufen. Ob der Junge die Katastrophe als solche erkennt? Vielleicht bedeutet für ihn dies alles nur ein riesengroßes Abenteuer? Nichts hat sich geändert.

Ich selbst kann mich sehr gut an den Herbst 1914 erinnern. Ich war gerade sieben Jahre alt und marschierte begeistert neben den mit Gewehren und Marschgepäck beladenen Soldatenreihen her, die in den Krieg ziehen durften. Mädchen und Frauen bewarfen die Soldaten mit Blumen. Männer schwenkten die Hüte und riefen begeistert: »Hurra!« Ich bildete mir ein, ebenfalls ein gefeierter Held zu sein und hatte die Soldaten damals beneidet - ich hatte keinen blassen Schimmer, was Krieg bedeutet. Dadurch, dass ich neben den Soldaten marschierte, fühlte ich mich ihnen gleich. Alle konnten mich, den tapferen Helden Jakob Löwenthal sehen; besonders die Erna Säckinger aus der Pillnitzer Straße. Sie stand vorm Haus, ich hatte ihre langen Zöpfe sehr wohl bemerkt und war dann besonders nah an ihr vorbeimarschiert. Eine süße Gänsehaut lief mir damals den Rücken hinunter, denn ich war verliebt in Erna. Nicht nur wegen der langen Zöpfe, sondern sie lispelte auch ein wenig und ich empfand das als etwas ganz Besonderes.

Heute im brennenden Inferno muss ich sogar ein wenig über den kleinen Helden vor mir auf dem Trümmerberg lächeln. Nein, nichts hat sich geändert. Welche Rolle der Junge vor mir in seiner Vorstellung spielt, kann ich nicht wissen. Ich ahne, dass er sich der schwachsinnigen Vorstellung seiner HJ-Führer würdig und mutig zeigen möchte. Armes Kerlchen, überlege ich, wenn nun bald dieser ganze Spuk vorbei sein wird, wie soll dann diese Jugend mit dem mörderischen Bild ihrer Ideale fertig werden? Wer hat mich vor Kurzem bloß gefragt, wie lange es wohl dauern würde, diesen Pimpfen den Blödsinn aus den Köpfen zu kriegen? Vergessen. Ich vergesse in letzter Zeit sowieso so viel. Hm, vielleicht ist’s auch nur Verdrängen, was weiß ich. Der Junge befindet sich gerade auf dem Abstieg zum Gehweg hin und ich bemerke mit Entsetzen, dass die zweistöckige Fassade des Hauses rechts von uns auf den Bub zustürzt. Instinktiv springt er aus der Gefahrenzone auf die Straße. Ich sehe, dass die Straße gar keine mehr ist, denn er versinkt bis zu den Knöcheln im flüssigen Teer, fällt hysterisch schreiend auf die bloßen Knie und Hände und das schreiende Gesicht ertrinkt im kochenden Teer.

Keine Chance zu helfen. Oh Gott, die kleine Hand bewegte sich noch. Viel zu lange brauchen die fallenden Mauern, um die Qual zu beenden. Aber nein, die Hand bewegt sich gar nicht, durch die Hitze kocht das Wasser unter der Haut und wirft Blasen auf, wie bei einem Spanferkel. Welch eine teuflische Erbärmlichkeit. Oh Gott, wo bist du? Hat hier im Land der Teufelei nur der Satan Einfluss?

Minutenlang kann ich mich nicht bewegen, schaue nur auf den Trümmerhaufen und die mittlerweile schwarzverbrannten Finger der Jungenhand, die langsam unter den Steinen versinkt. Die Menschen, die weiterhin auf dem Bürgersteig über Mauerreste und Schutt klettern, nehmen keinerlei Notiz von dem Geschehen. Von dem Jungen ist nichts mehr unter den Trümmern der Fassade zu entdecken. Als hätte es ihn nie gegeben. Vielleicht habe ich ja nur geträumt, rede ich mir ein. Wenn ich hierbleibe, ändert sich auch nichts. Nun mag ich mich gar nicht mehr zum Himmel hinauf bei den Bomberpiloten bedanken! Denken die wohl daran, was sie am Boden anrichten? Nutzlose Gedanken in einer Welt, in der Mord und Totschlag mit Orden belohnt wird. Ich gehe mechanisch in irgendeine Richtung. Wie eine Maschine, die sinnlos weitermacht. Mir ist plötzlich gar nicht mehr zum Lachen zumute.

Das Fragment irgendeiner Kirche glüht dunkelrot, gleißende Sonnen schimmern durch geborstene Mauern hindurch. Mit einem Mal weiß ich, wo ich mich befinde! Dort steht doch das vornehme Patrizierhaus mit den malerischen Türmchen rechts und links vom Eingang. Also stehe ich am Marktplatz. Das Haus scheint wie im Schüttelfrost zu zittern und stürzt dann in sich zusammen. Gerade wegen der entzückenden Türmchen hatte ich dieses Haus schon seit meiner Kindheit bewundert. Immer hatte ich mir vorgestellt, wie wohl der weite Blick über Dresden aus den Fenstern dieser Türmchen wäre.

Die Straßen, Häuser, Monumente und Schmuckstücke der Baukunst der vergangenen Jahrhunderte, die steinernen Zeitgenossen meiner Kinder- und Jugendzeit verschwinden einfach im Nichts. Das unerbittliche Finale menschlichen Irrsinns in Form militärischer Gräuel.

Ich habe keine Lust mehr, mein ehemaliges Zuhause nochmals zu besuchen und wende mich der Elbe zu. Lieber keinen letzten Blick auf die Reste unseres Hauses werfen, als dieses Sterben weiter aus der Nähe zu betrachten. Mittlerweile geht diese Nacht weit über meine Kräfte und mein Gehirn ist nicht länger in der Lage, das gefühlsmäßige Entsetzen auszugleichen.

Langsam erhebt sich die Sonne aus der Morgendämmerung im Osten, während das herrliche >Florenz des Ostens< in der Götterdämmerung verglüht. Es ist nur ein schwacher Trost, dass wenigstens auch die behördlichen Gebäude unbeirrt niederbrennen.


Der neue Tag kriecht als schmaler Streifen am Horizont aus der Dunkelheit. Es wird tatsächlich doch wieder hell. Und weiterhin strömen Menschenmassen, als folgen sie einem magischen Zeichen, zur Uferstraße an der Elbe. Ich kehre an meinen windgeschützten Platz auf den Steinen direkt am Fluss zurück, setze mich erneut auf den Haufen Pflastersteine am Wasser und beobachte die unzähligen Menschen, die in geringer Entfernung planlos in beide Richtungen an mir vorüberziehen. Vielleicht haben die ja recht. Vielleicht beruhigt das die Nerven. Ich mag mich einfach nicht aufraffen, ebenfalls in dem Menschenstrom unterzutauchen. Zu groß erscheint mir die Gefahr, dass irgendein Einzelner in der Menge mich als den Juden Löwenthal erkennen könnte. Einen Juden, für den das Nichttragen des verhassten Sterns in dieser Zeit deutscher Größe und Ehre ein todbringendes Verbrechen bedeutet, todbringend, weil sehr viele Menschen in Deutschland das Denunzieren als Ehrensache betrachten. Trotz des allgegenwärtigen Untergangs nicht nur immer noch, sondern immer mehr!

Auf meinem Steinhaufen fühle ich mich wie ein unbeteiligter Zuschauer einer entgeisterten Wanderung entsetzter Ratten auf der Flucht. Nein, nicht Ratten, wie heißen die Tiere, die freiwillig ins Wasser gehen?

Lemminge!

Endlich streichelt die Sonne mit sanftem Morgenlicht die Brühlsche Terrasse. Und eben dieses sanfte Licht zieht mich genau dorthin, zieht mich magisch an. Beruhigt stelle ich fest, dass niemand Notiz von mir nimmt, obwohl nur wenige Menschen diesen Platz beleben. Je weniger Menschen ich begegne, desto geringer ist die Gefahr, auf einen Bekannten zu treffen. Obwohl beides ja nicht in linearem Verhältnis zueinander steht. Ich lenke meine Schritte in Richtung Staatsoper und begegne auf meinem Weg vielen Frauen, aber nur sehr wenigen Männern, und diese wenigen sind meist Greise. Komisch, mir ist bisher gar nicht aufgefallen, dass ich einer der wenigen noch nicht zu den Greisen gehörender Mann bin. Vielleicht hat man mich deswegen so häufig kontrolliert und nicht nur wegen des Sterns.

Ich stelle den Koffer auch hier auf den Boden, setze mich darauf und schaue über die Augustusbrücke hinweg dem Flusslauf nach. Ein malerischer Anblick trotz der Trümmer ringsherum. Ein Gefühl der Hoffnung und Ruhe legt sich über meine Gedanken.

Ich muss eine ganze Weile dort gesessen und gedankenlos vor mich hin geträumt haben. Schließlich wache ich aus den Träumen auf. Mein Blick fällt auf eine Reihe Leute, die vor der Mauer zwischen ein paar armseligen geretteten Habseligkeiten hocken. Wandelnde Leichen mit tief in den Höhlen liegenden Augen und eingefallenen Wangen. Ich stehe auf, nehme den Koffer und nähere mich den Leuten. Keine Ahnung wieso.

Eine Frau kniet neben einem auf den Steinplatten liegenden Menschen. Ich sehe zwar nur ihren Rücken, bemerke aber, dass sie dem Liegenden die verbrannte Haut mit irgendwelchen Stoffresten oder Papierstreifen säubert und ab und zu die Lippen des Verletzten mit Wasser befeuchtet. Die anderen Leute sehen apathisch und ohne jegliche Neugier, Mitleid oder gar Hilfsbereitschaft zu. So unzählig viele Tote liegen herum, dass ein einzelner Verletzter gar nicht mehr zählt. Ich blicke von der Krankenschwester ohne Uniform zu einem vielleicht zehnjährigen Jungen, der barfuß in viel zu großer Bekleidung, die Hosenbeine eingekrempelt, auf der Terrassenmauer über den Leuten hockt und die Arbeit der Frau teilnahmslos betrachtet. Eine schmutzige Jacke schlottert um seine schmalen Schultern. Der Junge schaut von dem Verletzten weg und spuckt vor sich auf die Pflastersteine. Sein leerer Blick folgt der Spucke und er murmelt ein paar Worte an niemanden gerichtet. »Schade ums Wasser, wird eh verrecken.«

Dieser Junge drückt seine Sicht unserer großen Zeit punktgenau aus, er hat mit jeglicher Menschlichkeit abgeschlossen. Ihm ist kein Vorwurf zu machen. Selbst wenn der Junge vierzehn oder gar fünfzehn Jahre alt wäre, hätte er doch, seit er denken kann, nur den völkischen Schwachsinn von Partei, Schule und besonders von den Eltern eingetrichtert bekommen - was um Himmels willen wird aus dieser Generation einmal werden? Welches Verbrechen haben die mit Minderwertigkeitskomplexen beladenen kleinbürgerlichen Väter deutscher Obrigkeitshörigkeit an den heranwachsenden Menschen begangen?! Diese Sorte Väter sind der Abschaum unseres Vaterlandes. Sie sind mit den Händen an der Hosennaht geboren und auch noch stolz darauf, so zu sterben. >Vaterland!< prügeln diese Väter in ihre Söhne! >Vorgesetzten ist unbedingter Gehorsam zu leisten!< prügeln solche Väter in ihre Söhne! >Gehorsamkeit und Disziplin! kapierst du endlich, ja?!< prügeln gewissenlose Väter in ihre Söhne!

Und dieser Junge dort auf der Mauer sitzt nun vor dem Ergebnis von Gehorsamkeit und Disziplin. Hoffentlich kann dieser gefühllose, hoffnungslose Jungen irgendwann einmal diese Bilder vergessen.

Vielleicht werden in dreißig oder vierzig Jahren einmal Väter begreifen, dass selbstständiges Denken viel wichtiger ist als bedingungsloser Gehorsam und blinder Glaube. Tja. Später ... viel später vielleicht. Nicht gleich wütend werden, ja? Aber das wäre doch immerhin möglich. Das Ergebnis treudeutscher Erziehung fliegt uns ja gerade sehr anschaulich um die gehorsamen Ohren.

Wenn Carola meine Gedanken wüsste, würde sie wieder schimpfen. Na ja. Gedankenversunken wende ich meine Blicke von dem Jungen ab und beobachte die Bemühungen der Krankenschwester. Ob sie meine Blicke spürt, weiß ich nicht, sie wirft mir einen kurzen Blick über die Schulter zu und ich schaue in Carolas fassungslose Augen. Wir springen beide auf und Carola betrachtet mich, als wäre ich eine Erscheinung aus dem Jenseits.

»Jakob?!«, ruft sie viel zu laut. Einige der bisher Desinteressierten blicken sofort zu uns. »Jankele!«