Adolf Jens Koemeda: Das Pferdchen

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Thurgauer Zeitung; 03.12.2010

Kultur

Eine Frau sucht nach einem Neuanfang

Über Liebe, Enttäuschung und die Suche nach Glück schreibt Adolf-Jens Koemeda in seinem neuen Roman.


Graziella C. ist in Norditalien aufgewachsen und in die Schweiz eingewandert, arbeitet als Journalistin und als Pflegerin in einer Seniorenresidenz der gehobenen Klasse. Dort lernt sie, Mitte dreissig, Rainer kennen. Er ist der Sohn einer ihrer Patienten, gebildet, sportlich, unverheiratet und kommt aus einer guten Familie – «eine perfekte Partie», wie Graziellas Freundin Lucia meint. Rainer interessiert sich für Graziella, man kommt sich näher, eine Beziehung entsteht. Vordergründig ist alles in Ordnung. «Du bist im Wesentlichen eine sehr gute Seele. Das Einzige, was ich bei dir wirklich vermisse, ist ein gesunder Hang zur Oberflächlichkeit», sagt Rainer einmal zu Graziella. Die beiden sind einige Jahre zusammen, natürlich gibt es Krisen, wie in jeder andern Beziehung auch, meint der Leser. Graziella trennt sich von Rainer (weil er sie betrogen hat, glaubt sie; sie täuscht sich, sagt er). Und dann erschiesst sie ihn.

Ein Roman aus Briefen

«Das Pferdchen», der neue Roman des Ermatinger Arztes Adolf-Jens Koemeda, beginnt mit Rainers Tod. Graziella sitzt im Gefängnis und wird von einer Therapeutin beauftragt, ihre Kindheit, ihr Leben, die Zeit mit Rainer niederzuschreiben. Der Roman besteht einzig und allein aus diesen Briefen. Je länger Graziella protokolliert, desto klarer wird, dass sie schon seit vielen Jahren auf einer Grenze lebt. Sie ist psychisch krank. Es gelingt ihr über längere Zeit stabil zu sein, ein sogenannt «normales» Leben zu führen, und doch driftet sie immer wieder weg. Rainer versteht diese «Episoden» nicht, für sie aber gehören sie ganz selbstverständlich dazu.

Adolf Jens Koemeda ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Psychiater, und er schafft, was nicht so einfach ist. Ihm gelingt es zu zeigen, was eine psychische Krankheit ist, wie sie sich äussert und wie unverständlich sie für Angehörige sein kann. Man wird den Verdacht nicht los, dass die Geschichte um Graziella und Rainer nicht mit einem Schuss hätte enden müssen, wenn die Gesellschaft psychische Krankheiten nicht nach wie vor tabuisierte. Hätte jemand Graziella erklärt, was mit ihr los ist, hätte Rainer gewusst, warum sie sich so verhält – die Beziehung wäre wohl anders verlaufen.

«Das Pferdchen» ist ein trauriges Buch, doch der Schluss ist versöhnlich. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte, aber genau so könnte sie passieren. Ein starker Roman, der zeigt, dass das Leben vor allem aus Zwischentönen besteht und man mit Schwarz-Weiss-Denken keine Probleme löst.

KARIN PFISTER