Bernd Grashoff

Canadian Graffiti



10.

Revelstoke, an der Canada One, in einem weiten Tal des ungebändigten Columbia River, von Skigebieten umgeben, inmitten von selbst jetzt, Anfang September, mit ewigem Schnee bedeckten Bergen. Zugleich eine von zahlreichen Stationen auf der langen Strecke vom Pazifik zum Atlantik, ab mare usque ad maria, wo man spät abends ermüdet in irgendein Motelbett sinkt, um am nächsten Morgen rastlos weiterzufahren. Wenn man nicht spätestens um acht Uhr seinen Raum verlassen hat, scheuchen einen die meist ostasiatischen Reinemachfrauen mit ihren Wägelchen auf. Sie ziehen von Zimmer zu Zimmer, öffnen die Fenster, reißen das Bettzeug ab, wischen und sprühen mit stark duftenden Reinigungsmitteln, legen neue Seifenstücke an ihren Platz, ziehen Papierfolien über Zahnbecher und Klodeckel – Schlaf schneller, Genosse – er erinnerte sich an eine Satire aus der Frühzeit des Sozialismus in der Sowjetunion, als man dort noch vom Anbruch einer neuen, einer besseren Zeit träumte. Nebenan deutsche Stimmen: Gottfried sah sechs ältere Herrschaften in einen Kleinbus steigen. Er hörte Wortfetzen, aus denen hervorging, was sie alles an diesem Tag würden schaffen müssen: den Rogers-Paß an der Grenze zwischen Britisch Kolumbien und Alberta, den Jasper-Park, Lake Louise und abends Banff, den Ort der Winterspiele 1988 – wahrlich ein volles Programm!

Nachts hatte Gottfried von Felgenträgers Kindern geträumt. Die saßen an einer langen Tafel, sechs rechts, sechs links, eines nach dem anderen mit Namen aus Wagneropern, von dem strengen, gütigen Papa zur Ordnung gerufen, der sich flugs in den Schauspieler Curd Goetz aus dem Film DAS HAUS IN MONTEVIDEO verwandelt hatte. Bis die zweitjüngste Tochter empört meldet: Lohengrin popelt. Im bürgerlichen Lachtheater ein todsicherer Gag. Ach ja, und im Lauf der Geschichte stellt sich heraus, daß – so der Plot der Komödie – sie allesamt unehelich geboren sind, weil der Akt der Eheschließung vor Jahrzehnten juristisch irgendwie fehlerhaft gewesen war. Was sich positiv auf die Lösung des Konflikts auswirkt: Das Erbe der bösen toten Tante, die sich an ihrem ehrpusseligen Bruder für die Verstoßung nach einem Fehltritt rächen wollte, fällt nun an die füllig liebevolle und ein bißchen naive Mama, gespielt von Valerie von Martens. Angesichts dieser Idylle, die derjenigen verdammt ähneln mochte, die Gottfried bei Felgenträger vermutete, fragte er sich einmal mehr, warum der soviel erfolgreicher war als er, Gottfried. Mit einem gesellschaftlich wohlgefälligen, pensionsberechtigtem Leben, einer heilen Ehe, wohingegen er geschieden war, mit nur einem Kind, einer ihm längst entfremdeten Tochter, mit gescheiterten Beziehungen aller Art, sogar mit einer Leiche im Keller beziehungsweise im Eis, beruflich alles andere als erfolgreich und vor allem ohne den präpotenten Optimismus dem Leben gegenüber, den Felgenträger wie eine Kerze bei der Fronleichnamsprozession vor sich hertrug.


Beim Frühstück erinnerte sich Gottfried, daß der Traum eine traurige Fortsetzung gehabt hatte. Da stand auf einmal, anstelle von Lohengrin in seinem Hochstühlchen, ein kleiner Indianerjunge vor ihm, offenbar behindert, mit einem verschlafenen, apathischen Blick. Er zog ihn an der Hand in Stans Zimmer, der hatte ein Kinderbett neben seines gestellt. Ständig sei er aufgewacht und habe in das braune Gesichtchen des Kleinen geschaut, wie er ihm erklärte, verliebt in ein Indianerblut, wo er doch bis dahin, auch wenn er es nach außen nie zugegeben hätte, dieses Volk als arbeitsscheu, trunksüchtig, als kaum in die moderne Gesellschaft integrierbar, als Belastung der Volkswirtschaft angesehen hatte.

»Weißt du, daß sie immer begehrlicher werden? Wollen noch mehr Land von der Regierung, am liebsten alles westlich des Red Rivers, möchten Flüsse, Berge und Seen umbenennen, wollen alle nur denkbaren Privilegien: freie Jagd, freies Fischen, freie Verfügung über alle Bodenschätze.«

Und jetzt dieses Umschwenken angesichts des dreijährigen Kindes, das Lindas Bekannter Orville in die Familie gebracht hatte. Und Margret zu Tränen gerührt, als einer ihrer ersten Erziehungsversuche mit einer Pointe endete, die in die Humorspalte von READER’S DIGEST gepaßt hätte.

»Wie heißt es, wenn man etwas bekommen hat?«

Auf der Stirn des Jungen bildete sich langsam eine senkrechte Falte. Man spürte, wie es in ihm arbeitete.

»Wie lautet das magische Wort, Caleb, das ein lieber kleiner Junge dann sagen muß?«

Schon formten sich behutsam nachhelfend ihre Lippen zu einem »Danke« – da kam die unerwartete Antwort: »Shit.«

Was hatte Stan einmal ganz leise gefragt, als niemand im Zimmer war: »Hast du nicht manchmal das Gefühl, mit dem Jungen stimmt was nicht?«

»Er ist ein Indianer«, hatte Gottfried geantwortet.


Nein, bevor er weiterfuhr, würde er Hillary anrufen. Gestern hatte Helen nur die Kinder erreicht, von deren Existenz er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Er kehrte ins Motelzimmer zurück, setzte sich in einen Sessel und nahm das Telefon auf den Schoß. Laborday, sie würden zu Hause sein.

»Pierre?«

»Fred?«

»Überrascht?«

»Gestern hatten die Kinder etwas erzählt, vom Anruf einer freundlichen alten Dame.«

»So alt auch wieder nicht.«

»Die deinen Namen erwähnte, den eins der Kinder auf dem Merkzettel notiert hatte.«

Pierre mit dem frankokanadischen Akzent, der manche seiner Worte nahezu unverständlich sein ließ.

»Da dachten wir: Ah, sieh da, er ist erneut im Land. Warum auch nicht?«

»Die Sache mit Caleb...«

»Ich habe es so gesehen: ein Unfall, wie er immer passieren kann. Am gleichen Tag sind vermutlich viele übers Eis gefahren, und nichts ist geschehen.«

»Aber mir.«

»Weil MANITOBA HYDRO den Wasserstand des Sees ungewöhnlich stark abgesenkt hatte, denke ich mal, das hat jedenfalls die Polizei festgestellt. Dadurch hatten sich Hohlräume unter der obersten Eisschicht gebildet. Und unter dem Gewicht deines Fahrzeugs...« Dann: »Deine Stimme klingt, na, etwas merkwürdig. Geht es dir nicht gut?«

»Ja, ich gebe es zu«, erwiderte Gottfried, »mir geht’s nicht gut. Ich bin in eine unerträgliche Hetze geraten. Eigentlich müßte ich längst wieder auf der Straße sein.«

»Von wo rufst du an?«

»Revelstoke.«

»Hillary steht neben mir. Sie brennt darauf, mit dir zu sprechen.«

»Jeff? Du?«


Ja, sie hatte ihn Jeff genannt. Er sah sie vor sich, wie er damals zum ersten Mal das Haus an der Bannerman Avenue betreten hatte. Ihr war gerade vor ein paar Minuten aus dem Garten das Rennrad gestohlen worden, auf das sie zwei Jahre lang gespart hatte: durch Nachhilfeunterricht, Babysitting, Schwimmaufsicht an einem Pool. Sie war eine dünne Person, hoch aufgeschossen, die sich als vierte Tochter immer ein bißchen zurückgesetzt fühlte und leicht beleidigt war. Wegen ihrer allzu markant herausragenden Schneidezähne, die ihr in der Schule den Spitznamen Bunny eingetragen hatten, hielt sie sich für unattraktiv. Gottfried, obwohl todmüde vom langen Flug, hatte sofort mithelfen und die gesamte Nachbarschaft mit absuchen müssen, jede Ecke, alle Seitenwege zwischen den Hausreihen, das Gebüsch am Flußufer – ohne Ergebnis. Ann hatte es nicht für nötig empfunden, ihn der Familie vorzustellen. Unbeachtet saß er in der Küche, alles scharte sich um das verheulte Mädchen. Was für ein Empfang in einem fremden Land! Nach einer Flucht! Wo er sich fast als Asylbewerber fühlte. Als erster war er Margret aufgefallen. Wer ist denn das? Und schaute ihn erstaunt an. Wieder ein neues Gesicht unter den vielen, ständig wechselnden Verehrern ihrer Töchter? Und war hier sogar mit einem dicken Koffer hereingeschneit. Sie drückte Hillarys Kopf tröstend an ihren Busen und schaute über deren Schulter auf Gottfried. Dann hellte sich ihr Gesicht auf.

»Laß mich raten – du bist unser Flüchtling aus Germany!«

Erst jetzt war Ann auf ihn aufmerksam geworden. Sie ärgerte sich über diese Art des Empfangs und gab ihm die Schuld für seinen verunglückten Auftritt.

»Wenn du müde bist...« und hockte sich desinteressiert auf einen der Heizkörper. Margret schimpfte: »Niemand sagt mir Bescheid. Wie heißt er eigentlich? Und ist das die feine kanadische Art, einen Gast zu empfangen? Wo willst du ihn unterbringen, Mädel?«

Zu Gottfried gewandt: »Vier Töchter! Hoffnungslos. Verwandeln ein normales bürgerliches Haus in ein Chaos aus Gelächter, dummem Geschwätz, Tränen, Unordnung und Faulheit. Weswegen bis jetzt noch keine einen Mann gefunden hat. Oder?« Sie taxierte Gottfried ungeniert: War der vielleicht ein möglicher Bewerber, der eine so weite Reise unternommen hat, um –?

Dann stemmte sie ihre Hände in die Seite und dozierte: »Hüte dich vor einer Familie, in der die Männer in der Minderzahl sind. Meinen zweiten Ehemann, Stan heißt er, behandeln sie halb anhimmelnd wie einen Star, halb frech wie einen Schuljungen.«

Sie packte seine Hand, zog ihn hinter sich her und nahm ihn mit nach oben.

Er landete in einem Mädchenzimmer mit einem wie ein Rettungsboot hergerichteten Bett, mit Haltegriffen an den Seiten und Hinweisschildern: Festhalten, bis Hilfe kommt. Vorsicht, Signalraketen nur in Windrichtung abfeuern. Notsender im Bug, Deckel abreißen und auf roten Knopf drücken.

Über seinem Kopf pendelte ein Mobile mit geflochtenen Fischen aus Stroh. Und an den Wänden Eishockeyspieler neben Postern von Jim Morrison, den Rolling Stones und Cat Stevens, unzählige Tierfotos in allen Größen, auf dem Boden und auf den Stühlen wirre Haufen von Wäsche, Kleidern, ein winziger BH, das alles packte Margret unter ihren Arm. Sie lächelte Gottfried einmal kurz zu. Dann schloß sie die Tür hinter sich. Er dachte an den Titel eines Romans von Hemingway IN EINEM ANDEREN LAND, und im nächsten Moment an die Landung vor ein paar Stunden, auf dem Flughafen in der Prärie, ermüdet von dem langen Flug, wie die Maschine langsam in Richtung Empfangsgebäude rollte, wie er aus dem Fenster das von der Hitze verbrannte Gras sah, eine öde, verdorrte Pistenwüste, wie die anderen Passagiere erfreut und lebhaft miteinander zu reden begannen, ihre Kleider ordneten, wie einzelne sich schon an den Gepäckbehältern zu schaffen machten, nur er allein stemmte sich in den Sitz zurück, um sein lahmes Kreuz zu entspannen und sich die entmutigende Frage zu stellen: Was soll ich hier eigentlich?