Georg Frei

Ohne Tabu

Eine schamlose Autobiographie

1. Kapitel

Hat es einen Sinn, den vielen Autobiographien eine weitere hinzuzufügen?

Einen Sinn kann dies nur dann haben, wenn die Autobiographie sich von anderen wesentlich unterscheidet. Die meisten Autobiographien sind kastriert: Vor den Anspruch auf Aufrichtigkeit und Authentizität schiebt sich ein Raster, welches das, was gefühlt und erlebt wurde, filtert und es in eine den normativen Standards entsprechende Form bringt.

Die meisten Biographien und Autobiographien beschreiben Geistwesen oder Menschen ohne Unterleib. Das Leben des Leibes bleibt meist ausgespart. Die ergänzenden Tagebücher über "Mein geheimes Leben” bleiben unveröffentlicht, werden von wohlmeinenden Angehörigen vernichtet oder werden erst gar nicht geschrieben.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, welche die Freiheit des Wortes in ihren Verfassungen garantiert hat, obwohl dies nicht vor sozialer Diskriminierung schützt. Daher gilt es dies zu beachten, wenn man Schaden von Personen abwenden will, die in einer Autobiographie genannt werden.

Ein möglicher Weg bietet sich an, wenn es sich bei den erwähnten Menschen nicht um Personen der Zeitgeschichte handelt. Hier kann man durch Änderung der Namen, der Orte und Zeiten und durch Wahl eines Pseudonyms einen Schutz der betroffenen Personen erreichen.

Warum eine "schamlose" Autobiographie?

Als einer Gewerkschaftsführerin nach einem Streik die Zustimmung der Mitglieder verweigert wurde, brachte eine Zeitung eine Karikatur. Der füllige weibliche Körper war in Nabelhöhe durchtrennt, sein Unterleib entfernt und er stand auf winzigen Füßchen. Die Unterschrift lautete: "Ohne Basis”.

Fast alle Biographien und Autobiographien gleichen Büsten ohne Basis und Unterleib, sind "Bücher ohne Schwänze und Mösen”. In der Gürtellinie abgeschnitten, stellen sie die Persönlichkeiten verzerrt dar. Die Schere im eigenen Kopf, die Schere im Lektor und Zensor verhindern eine Biographie, die den Leib, das Leben des Körpers, Erotik und Sexualität einschließt.

Wenn man Tagebücher und Autobiographien liest, stellt man fest, daß sie mehr verbergen als enthüllen. Diese Erfahrung machte auch P. Aries, als er die "Geschichte des privaten Lebens” schrieb:

"Wer hat jemals gewagt, sein privates Leben aufzuzeichnen, ohne etwas zu verschweigen und ohne Exhibitionismus? Ohne sich vor Bekenntnissen zu scheuen, durch die er Dritte hineinzieht und Repressalien riskiert? Niemand, vermute ich.”

Ich empfand dies als eine Herausforderung. Um meine Autobiographie in einer Fiktion, einem Roman zu verstecken, wie dies Henry Miller tat, fehlt mir das Handwerkszeug und der Ehrgeiz eines Schriftstellers.

Diese Autobiographie will ein Dokument des "privaten Lebens” eines Mannes in der Mitte unseres Jahrhunderts sein, der nicht gelebt hat, um darüber zu schreiben, wie sich Simenon einmal über sich äußerte, der es aber auch nicht nötig hatte zu schreiben, um wie Henry Miller davon zu leben. Das Buch muß daher keine Rücksicht nehmen, weder auf die Leser noch auf die Verleger und die Literaturkritiker, noch auf die auch heute noch immer gegenwärtige, als Selbstkontrolle getarnte Zensur.

Das Gefühl der Vermessenheit, die eigene Biographie für wichtig zu halten, verschwand, als ich die Meinungen vieler Philosophen und Dichter über das autobiographische Schreiben las. Goethe schrieb: "Wir lieben nur das Individuelle. Daher die große Freude an Vorträgen, Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten selbst unbedeutender Menschen. Die Frage, ob einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es tut, für den höflichsten aller Menschen. Wenn sich einer nur mitteilt, so ist es ganz einerlei, aus was für Motiven er es tut."

Warum erzähle ich meine Geschichte?

Ich halte es für notwendig, Menschen Mut zu machen, um ein alternatives Leben zu gestalten. Zu zeigen, daß es möglich ist, im Zeitalter der Scheidungen und Trennungen 45 Jahre in einer glücklichen Ehe zu leben, davon 20 Jahre in einer "offenen Ehe". Das Buch ist auch eine Würdigung meiner Frau, die mir ein solch ungewöhnliches und glückliches Leben ermöglichte durch ihre Bereitschaft, ihre eigenen Vorstellungen in Frage stellen zu lassen und trotzdem zu lieben.

Das Buch bricht einige Tabus. Der Philosoph Günter Anders schreibt über das Tabu: "Die Anerkennung eines Tabus ist nicht nur unphilosophisch, sondern antiphilosophisch. Tabus sind ins Physiologische übergegangene Vorurteile. Erziehung zur Verletzung von Tabus sollte zur philosophischen Propädeutik gehören. Die Aufgabe philosophischen Denkens ist, nichts auszulassen, nicht wegzusehen und Ausgrenzungen in Frage zu stellen."

Eine solche Ausgrenzung hat in fast allen Kulturen die Sexualität erfahren, nicht nur im öffentlichen Leben, sondern auch im Leben des Einzelnen. Sie wurde verdrängt.

Dieses Buch steht in der Tradition des "schamlosen" Philosophen Diogenes, der nach Sloterdijk "auf dem Marktplatz von Athen pisste und onanierte". Und warum das alles? Weil er damit auf die verdrehten Normen hinweisen wollte, die dazu führen, daß der Mensch sich für die falschen Dinge, für seine animalische Seite schämt, während er ungerührt bleibt bei Ausbeutung, Betrug, Krieg, Folter, Verblendung. Die Scham bindet uns an soziale Konformismen. Sie verhindert, daß wir Einzelne werden und uns mit der sozialen Schamdressur nicht zufriedengeben. Die Befreiung von der unangemessenen Scham ist ein Weg zur Emanzipation.

Das Buch wird Anstoß erregen. Freud hatte bereits über die Anstoßnehmer geschrieben : "Sie werden offenbar durch alles geniert, was allzu deutlich an die tierische Natur des Menschen mahnt. Sie wollen es den vollendeten Engeln im Faust gleichtun: ‘Uns bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich. Und wär es von Asbest, es ist nicht reinlich’. Da sie aber von solcher Vollendung weit entfernt bleiben müssen, haben sie den Ausweg gewählt, diesen unbequemen Erdenrest möglichst zu leugnen."

Ein Mann - er stammt aus dem Osten - kommt zur Beichte: "Ich habe mit einer verheirateten Frau geschlafen!” Darauf der Priester: "Wie oft?” Der Mann sagt: "Aber Hochwürden, bin ich gekommen, mich zu zerknirschen oder bin ich gekommen, um mich zu berihmen?”

Dieses Mißverständnis, sich "berihmen” zu wollen, tritt oft gerade bei Schilderungen sexueller Aktivitäten auf. Auch ich kann mich diesem Mißverständnis nicht entziehen, verzichte aber auch darauf, mich dagegen zu verteidigen.

3. Kapitel

Exkurs: Über den rechten Gebrauch von Pornographie

Ein Fall von Pornophobie zwang mich als Arzt, mich mit Pornographie und Sexualität theoretisch zu beschäftigen.

Eines Tages wurde mir eine Patientin wegen unklarer Gewichtsabnahme unter dem Verdacht einer bösartigen Erkrankung überwiesen. Sie hatte seit mehreren Monaten stark an Gewicht abgenommen und litt unter Erbrechen und Bauchschmerzen. Seit mehreren Wochen war sie arbeitsunfähig. Die genaue Vorgeschichte und die körperliche Untersuchung erbrachten keine krankhaften Befunde. Probleme oder seelische Konflikte wurden von der Patientin verneint, obwohl mir eine gewisse Traurigkeit und Niedergeschlagenheit auffiel, die sie aber mit ihrer Krankheit erklärte. Also röntgte ich, spiegelte den Magen und Darm, untersuchte das Blut usw. Das Ergebnis war eine körperlich gesunde Frau.

Nach Abschluß der Untersuchungen saß sie mir im Sprechzimmer wieder gegenüber und erwartete meine Diagnose. Eine Situation, die allen Ärzten bekannt ist und die Unbehagen bei Arzt und Patienten auslöst. Ich mit meinen Normalbefunden, die Patientin mit ihren weiterhin bestehenden Beschwerden. Hier schließt sich dann meist die Frage an: Könnten die Beschwerden seelische Ursachen haben?

Die entsprechenden Fragen lösten bei der Patientin eine etwas unwillige Abwehr aus. Sie bestand darauf, daß ja "irgend etwas" nicht in Ordnung sein müsse. Ob es vielleicht die Bauchspeicheldrüse sei, wie ihr Hausarzt angedeutet habe?

Nach ihrer Ehe befragt, meinte sie: "Na ja, wie das so nach 25 Jahren ist."

Wegen eines dringenden Telefongespräches musste ich die Patientin kurz ins Nebenzimmer bitten. Als ich sie dann wieder ins Sprechzimmer holen wollte, fand ich eine schluchzende und in Tränen aufgelöste Patientin vor. Es war nicht einfach, sie zum Reden zu bringen, aber schließlich kam heraus, daß sie verzweifelt war.

"Ich sage Ihnen jetzt etwas, was ich bisher keinem Menschen anvertraut habe!"

Ich war auf Schreckliches gefaßt und doch einigermaßen überrascht, als sie mir ihr Geheimnis erzählte. Sie hatte in der Jackentasche ihres Mannes, mit dem sie 25 Jahre lang in einer halbwegs glücklichen Ehe lebte, ein Pornoheft mit "scheußlichen und schmutzigen Schweinereien" gefunden. Diese Entdeckung habe sie so erschüttert, dass sie es seitdem nicht mehr ertrage, wenn ihr Mann sie berühre. Sie sei verzweifelt und niedergeschlagen, schäme sich für ihren Mann, habe nichts mehr gegessen und zu nichts mehr Lust. Ihrem Mann habe sie bisher nichts davon gesagt.

Ich dachte zunächst an einen Einzelfall einer im Zeitalter der sexuellen Revolution ungewöhnlich verklemmten Frau, aber zufällig las ich dann in einer Frauenzeitschrift ein Interview mit einer sich durchaus als emanzipiert empfindenden Studentin. Sie wurde gefragt: "Was würden Sie tun, wenn Sie zufällig bei Ihrem Freund Pornohefte finden würden?"

Ihre Antwort darauf: "Ich würde mich von ihm trennen."

Eine Patientin mit einem siebenjährigen Jungen erklärte mir, sie habe sich scheiden lassen, weil ihr Mann eine Vorliebe für Pornographie hatte und sie dies als nicht erträglich empfand.

In einer anderen Illustrierten ein Leserbrief einer Frau, die sich nach 44-jähriger Ehe von ihrem Mann trennen will, weil er sich am Wochenende diese "scheußliche Fleischbeschau Tutti-Frutti" im Fernsehen ansieht.

Es wurde mir klar, daß viele Menschen in der Pornographie eine Gefahr nicht nur für ihre Beziehung, sondern für die ganze Gesellschaft sehen. Ein Bischof begrüßte Hitler, weil er das deutsche Volk aus dem "Sumpf der Pornographie" errettet habe. In diesem Sumpf lebte noch vieles, was der Saubermacher der Nation auszurotten hatte: jüdisches und slawisches Untermenschentum, Homosexuelle, Zigeuner, Kriminelle. Der Saubermacher der Nation fegte mit eisernem Besen über die Tenne und verbrannte das Ungeziefer in Auschwitz und anderswo. Der Kampf gegen die Pornographie war für den Bischof Grund genug, Hitler zu begrüßen.

Auch für viele Feministinnen ist die Pornographie eine Bedrohung für die hehren Ziele des Feminismus. Alice Schwarzer läßt keine Talk-Show vergehen, ohne auf die Pornographie hinzuweisen und den sexuellen Mißbrauch und die Gewalt an Frauen auf die Pornographie zurückzuführen.

Auch die sozialistische Welt fühlt sich durch die Pest der Pornographie bedroht. Im roten China wurden 1992 circa 50.000 Menschen wegen der Produktion und Verbreitung von pornographischen Heften, Büchern und Videos verhaftet.

Und so stehen sie, die Reihen dicht geschlossen, alle, die noch um absolute Werte und die Würde der Frauen wissen, die heiligen Bischöfe neben der heiligen Alice, die fundamentalistischen Mullahs neben den Brahmanen Indiens und der konservativen Rechten in den USA.

Die Patientin war in ihrer Einstellung zur Pornographie also kein Einzelfall. Als Arzt fühlte ich mich aufgerufen, der Patientin zu helfen.

Die Begegnung mit der Pornographie und die Reaktion darauf hatte die Arbeitsfähigkeit und die Ehe der Patientin nachhaltig beeinträchtigt. Wie konnte ich ihr helfen, ihren Mann wieder achten zu können, die Ehe weiterzuführen und wieder gesund zu werden? Die Patientin nahm an, daß ein Mann, der Pornographie benutzt, sich dadurch von ihr abwendet, sie nicht mehr liebt und die Ehe gefährdet.

Sie nahm an, daß ein Mann, der solch "schweinisches Zeug" ansieht, ein "Schwein" ist und daß sie sich für das Verhalten ihres Mannes schämen müsse. Kein Wunder, daß sie bei diesen Einstellungen Verzweiflung, Scham, Wut und Angst fühlte.

Um der Patientin helfen zu können, musste ich mich selbst erst einmal umfassend informieren. Ich besorgte mir also Bücher über dieses Thema, sah mir einige Pornohefte und Pornofilme an und unterwarf auch meine eigene Einstellung zu Sexualität und Pornographie einer rationalen Überprüfung.

Bücher und Schriften gegen die Pornographie gab es in Hülle und Fülle. Sie konnten mir und der Patientin nichts nützen. Ich mußte nach positiven Aspekten der Pornographie suchen, um die Achtung der Patientin gegenüber ihrem Mann wieder herzustellen.

Dazu fiel mir die Geschichte von Edschu ein, einem Schamanen-Gott Westafrikas. Eines Tages setzte er sich einen Hut auf, der auf der einen Seite weiß, auf der anderen schwarz war und ging damit auf der Grenze zwischen zwei Feldern spazieren. Der eine Bauer sagte, Edschu habe einen weißen, der andere Bauer behauptete, er habe einen schwarzen Hut auf. Sie stritten sich und hätten sich fast erschlagen, als der Gott auftauchte und ihnen die Wahrheit sagte: Die Wahrheit sieht anders aus, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man sie betrachtet.

Darstellungen sexueller Akte

finden sich bereits in den Höhlenmalereien der Eiszeit, in den Villen von Pompeji und in den Malereien eines Hieronymos Bosch. Man kann sie bei Naturvölkern ebenso finden wie auf Keramiken der Inkas, den Amphoren Griechenlands oder den Tempelplastiken Indiens. Sie haben zweifellos nicht nur rituellen Charakter gehabt, sondern dienten auch als Aphrodisiaka.

In allen Völkern finden sich Versuche, sexuelle Begierden zu erregen oder zu erhalten. Zaubersprüche, zerstoßene Nashörner, eine Vielzahl von Kräutermischungen dienen diesem Zweck. Als wirksamste Aphrodisiaka haben sich sexuelle Darstellungen und sexuelle Phantasien erwiesen.

Jeder Junge hat an sich selbst beobachtet, wie sich solche Phantasien körperlich auswirken. Das erigierte Glied beim Anblick von Pornographie ist der schlagendste Beweis für die bis in den Körper reichende Wirkung von Literatur und Bildern.

Ein amerikanischer Arzt berichtete von Frauen, die in der Lage waren, allein durch Phantasie zum Orgasmus zu kommen, ohne sich zu berühren. So wie man den Speichelreflex auslösen kann, indem man an eine Zitrone denkt oder einen Ekelreflex durch Vorstellen häßlicher Dinge, kann auch der Orgasmus ein bedingter Reflex sein, der allein durch eine sexuelle Vorstellung ausgelöst wird.