Sigfried Flemming

Im Zeichen der ungleichen Zwillinge


25.


Es freute mich, dass Brigitte danach verlangte, mit mir und dem kleinen, drolligen und aufgeweckten Thomas meine Heimat zu besuchen. Nur konnte ich nicht ahnen, dass diese Reise schwieriger und strapaziöser als die bisherigen Reisen werden würde, weil die DDR-Behörden es abermals darauf abgesehen hatten, ihre großartige Improvisationskunst unter Beweis zu stellen; denn anstatt über Gutenfürst, mussten wir über Probstzella fahren. Und weil die in Probstzella bereitgestellten Züge schon in aller Herrgottsfrühe abfuhren, waren wir dazu verurteilt, die ganze Nacht in einer großen Baracke zu verbringen und mitzuerleben, dass es unserem Thomas schwerfiel, in unseren Armen einzuschlafen. Aufgedreht und putzmunter rannte er in der spärlich erhellten Baracke umher und unterhielt die übermüdeten Wartenden mit seinen Redensarten und Sprüchen oder gab kleine akrobatische Künste zum Besten.

Brigitte ermüdete immer mehr und bat mich, auf Thomas zu achten, während sie sich auf einen kümmerlichen Stuhl setzte und bald ein Nickerchen machte, doch immer wieder durch das Schnaufen, Stampfen und Geheul rangierender Dampflokomotiven aufgeschreckt wurde.

Und später, gegen 5 Uhr, war es ein unfreundlich wirkendes Zugpersonal, das eine umständliche und schikanöse Fahrkartenkontrolle startete, wie sie vielleicht vor 50 Jahren im Wilden Westen üblich war. Noch unfreundlicher, nahezu feindlich benahmen sich die Grenzkontrolleure, behandelten uns, als seien wir Menschen zweiter Klasse, als seien wir die geschmähten Handlanger des kapitalistischen Systems.

Nur ertrugen wir die Unfreundlichkeiten und Schikanen mit stoischer Ruhe, weil wir hofften, bald Freundlicheres erleben zu dürfen.

Und dieses Erfreuliche erwartete uns in der Gestalt Gerhards, der uns am Bahnhof herzlich begrüßte, Brigitte umarmte, sie willkommen hieß und schließlich Thomas bei der Hand nahm, um ihn voller Stolz zu unserer Mutter zu führen, die uns bereits an der Haustüre erwartete und sich nicht scheute, spontan auf uns zuzugehen und uns in die Arme zu schließen.

Gerhards zukünftige Frau Lena war noch nicht erschienen, wollte nach seinen Worten erst später kommen, um das Durcheinander der Begrüßung nicht konfuser zu machen. Dafür war Erhard im Wohnzimmer zugegen und gab sich alle Mühe, freundlich und nett zu sein und hinreichend auf Thomas' Unkompliziertheit einzugehen. Neben ihm stand Hilde Kunze, seine zukünftige Frau, die uns leicht von oben herab begrüßte und so tat, als sei sie etwas Besonderes, als sei sie eine außergewöhnliche Persönlichkeit, indem sie bewusst davon sprach, dass sie meine Bekanntschaft leider nicht früher machen konnte, weil sie während meiner Besuche wiederholt auf Versammlungen und Kongressen gewesen sei.

Brigitte und ich blickten uns vielsagend an, wussten sofort, mit wem wir es zu tun hatten und unterließen es, auf diese angeblich so bedeutungsvollen Versammlungen und Kongresse einzugehen. Stattdessen erklärte ich, dass ich froh wäre, Brigitte meine Heimat zeigen zu können.

Es war ein Fehler von mir, dass ich nur erwähnte, Brigitte meine Heimat zeigen zu wollen und ganz vergessen hatte, hinzuzufügen, dass es auch meine Absicht war, Brigitte mit meinen Verwandten bekannt zu machen; denn Hilde hatte plötzlich nichts anderes im Sinn, als allein von der Heimat zu reden und in hochtrabenden Worten zu erklären: "Die Heimat ist zwischenzeitlich viel anders, ist, nach einer schrecklichen Zeit, endlich sozialistisch und friedlich geworden."

Brigitte und ich hatten keine Veranlassung, darauf zu antworten. Zu sehr befremdete uns dieser politisch geprägte Empfang und zu wenig wussten wir, wie wir damit fertig werden konnten.

Erhard bemerkte dies und sagte zu Hilde: "Ich glaube, die Freude, Brigitte und Andreas kennen zu lernen, hat dich zu übereilten, um nicht zu sagen, zu vorschnellen Worten verleitet, da der wahre Sozialismus erst im Kommen ist."

"Mag sein", erwiderte sie und blickte betreten drein. "Es ist leider eine Gewohnheit von mir, immer etwas voreilig zu sein und die Dinge so zu sehen, wie sie sein sollten, aber aus irgendwelchen Gründen noch nicht so sein können."

"Schon gut, schon gut", versetzte Erhard geschwind und vermochte damit die Situation so weit zu bereinigen, dass die Mutter beruhigt mit Thomas in die Küche gehen und ihre Essensvorbereitungen fortsetzen konnte.

Doch diese Familieneintracht täuschte und gefährdete sogar die von Hilde angedeuteten friedfertigen Verhältnisse; denn bereits wenige Minuten später, als wir alle gemütlich im Zimmer saßen, miteinander plauderten, Erfahrungen austauschten und froh und glücklich schienen, endlich in einem größeren Familienkreis vereinigt zu sein, gefiel sich Hilde abermals darin, unsere Eintracht auf eine Probe zu stellen, indem sie auf die politischen Verhältnisse in der DDR zu sprechen kam und das neue System über alles lobte.

Zum Glück erschien in diesen kritischen Augenblicken Lena und brachte durch ihr freundliches Wesen, durch ihre charmante Art, eine belebende und friedfertige Stimmung in die einfach eingerichtete Wohnung hinein.

Schon bei ihrem Eintreten hatte ich bemerkt, wie unsere Mutter sie mit Wohlgefallen betrachtete und froh war, dass sie gekommen war. Und ich erkannte dies umso mehr, da sie von Lena freundlich begrüßt und mit einem zärtlichen Kuss bedacht wurde.

Als sie dann auf mich und Brigitte zutrat, stellte sie sich, ein wenig burschikos, als Lena Schwarz, als die Verlobte Gerhards vor und bedachte uns beide mit einem Kuss. Und zu Erhard und Hilde sagte sie in einer gewinnenden, sympathischen Art: "Ihr zwei sollt auch nicht zu kurz kommen!", und küsste sie ebenso herzlich und ungezwungen.

Dieses unkomplizierte Auftreten führte dazu, dass im Wohnzimmer bald eine ausgesprochen angenehme Atmosphäre herrschte und jeder der Anwesenden sich Mühe gab, gelöst und heiter zu sein und verfängliche Gesprächsinhalte auszusparen.

Als schließlich unsere Mutter das Essen herbeischaffte, waren es Lena, Hilde und Brigitte, die ihr helfen wollten, sich aber mit ihrer Aussage begnügen mussten: "Heute bin ich dran! Habe lang genug gewartet, bis wir alle beieinander sind. Lediglich für Thomas bräuchte ich jemand, der darauf achtet, dass er im Hof, mit der alten Pumpe, keinen Unfug macht oder nicht zum Bach geht, um dort im flachen Wasser zu planschen."

Und kaum, dass sie es gesagt hatte, verließ Brigitte das Zimmer. Möglicherweise wollte sie Thomas dort suchen, wo ihn meine Mutter vermutete. Oder sie hatte sich in den Nachbargarten verirrt, weil sie die Gegend noch nicht kannte.

Mir aber entfuhr der schuldbewusste Satz: "Ich bedaure, dass mir die Aufmerksamkeit für den kleinen Bengel verloren ging. War ursprünglich der Meinung, dass er in der Küche sei, um der Oma beim Kochen zuzusehen."

"Die Schuld ist ganz bei mir", erwiderte meine Mutter. "Ich war in ihn so verliebt, dass ich vor lauter Liebe die Pflicht des ständigen Aufpassens vergaß. Wie das so ist!"

Gerhard lachte über diese Bemerkung, lachte wohl, weil sie irgendwie anders ausgelegt werden konnte. Doch ich lachte nicht und rannte Brigitte nach, um ihr bei der Suche nach Thomas behilflich zu sein.

Es war gut so, dass ich vor Brigitte den Bach erreichte, denn Thomas war gerade dabei, an einer günstigen Stelle ins Wasser zu waten. Rechtzeitig hinderte ich ihn daran und erklärte ihm groß und breit, wie gefährlich es sei, unbeaufsichtigt ans Wasser zu gehen.

Da Gerhard und Erhard aus Platzgründen bei ihren zukünftigen Frauen übernachten wollten und sich bereits zum Weggehen formierten, nutzte ich diese günstige Gelegenheit, um mit Brigitte ins Dorf zu gehen und ihr zu zeigen, wo ich während meiner Kindheit spielte, kämpfte und tobte, mit Spielgefährten die tollsten Lausbubenstreiche vollführte und mich außerdem, obgleich nicht immer erfolgreich bemühte, schwächere Kinder gegen die Übergriffe berüchtigter Raufbolde zu schützen, um das Ungerechte und Böse zu bekämpfen.

Später besuchte ich mit Brigitte zwei Cousinen und war überrascht, dass ein offenes Gespräch mit ihnen nicht möglich schien; denn die Zeit, die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, hatten sie derart vorsichtig und misstrauisch gemacht, dass wir nicht erstaunt sein durften, auf meine Frage, wie es ihnen ginge, die stereotype Antwort zu erhalten: "Uns geht es gut. Worüber sollen wir klagen?" Obwohl ihren heruntergekommenen Häusern, ihren altmodischen Wohnungen, ihren dürftigen Kleidern und ihren eingefallenen Gesichtern anzusehen war, dass ihre Aussagen nicht der Wahrheit entsprachen. Und die Begegnung mit ihren anwesenden Männern passte augenfällig dazu, denn sie gaben sich wortkarg und scheu, weil sie mit großer Bestimmtheit nicht wussten, wie sie sich gegenüber besser gestellten Menschen, zu denen wir zweifellos gehörten, verhalten sollten. Vielleicht befürchteten sie, uns auf eine entsprechende Frage sagen zu müssen, dass die von ihnen ausgeübten Arbeiterberufe nicht ihrem Niveau entsprachen.

Etwas später begegneten wir, als hätte es so sein müssen, einem ehemaligen Freund Gerhards, dem Sohn eines Friseurmeisters. Er machte auf uns einen hochmotivierten Eindruck, erzählte unentwegt und redegewandt, in Karl-Marx-Stadt (dem ehemaligen Chemnitz) zu studieren und ließ sich von seiner übersteigerten Selbsteinschätzung derart begeistern, dass er uns vorschwärmte, nach bestandenem Examen, an derselben technischen Hochschule lehren zu wollen.

Ich weiß, dass er Gerhards bester Mitschüler war, weiß aber auch, dass er sich zu Zeiten des Dritten Reiches in der Hitlerjugend sehr engagierte, sodass der von Gerhard ausgesprochene Verdacht nicht unbegründet schien, dass er es meisterhaft verstanden hatte, sich zur rechten Zeit den Kommunisten anzubiedern und ihnen dienstbar zu sein.

Doch nicht genug damit! An jenem denkwürdigen Tag begegneten wir noch anderen merkwürdigen Typen, begegneten wir zuerst dem Sohn eines Kunsthändlers, der die Tochter des Freudentaler Bürgermeisters, eines ehemaligen Bergmanns geheiratet hatte und (ohne jegliche Vorbildung) in Leipzig Politik studierte; eine Politik, von der er vor dem Krieg nicht das Geringste wusste. Und sicherlich war er kein Dummkopf! Nur musste ich mir sagen und sagte es auch Brigitte, dass Gerhard noch viel weniger ein Dummkopf war, es aber ablehnte, seine Gesinnung und seinen Charakter wegen einer besseren beruflichen Stellung zu verraten.

Der andere Konjunkturritter war ein ehemaliger Student des nationalsozialistischen Langemarck-Studiums, der nach dem Kriege (durch verwandtschaftliche Machenschaften) den Bund fürs Leben mit der einzigen Tochter eines ehemaligen Arbeiters schloss, der wegen seiner kommunistischen Gesinnung, urplötzlich auf dem Gemeindeamt die zweite Geige spielte und - wie mir berichtet wurde - von Verwaltungsarbeiten und Gesetzen nicht die geringste Ahnung hatte.

Diesem nationalsozialistisch geprägten Studenten von Hitlers Gnaden war es zweifelsfrei peinlich, dass er mir begegnete. Und noch peinlicher war es ihm, dass ich ihn fragte, welchen Beruf er ausüben würde, sodass er mir lediglich antwortete, in einer großen Textilfabrik eine führende Stellung innezuhaben. Um welche Stellung es sich handelte, sagte er nicht, weil er, wie Gerhard mir später erzählte, als politischer Agitator in jener Firma tätig war und als solcher, wie kaum jemand, gehasst und gefürchtet wurde.

An diesen wenigen Beispielen wurde mir und auch Brigitte das Ausmaß der merkwürdigen und undurchschaubaren Veränderungen in der DDR bewusst und wir brauchten nicht überrascht zu sein, dass sich auch Erhard an diesen Veränderungen beteiligte und dabei ganz und gar vergaß, was er dem Ansehen einer bürgerlichen Familie schuldig war.

So gesehen und betrachtet, hatte ich nicht allzu viele Gründe, auf meine Verwandten und Bekannten besonders stolz zu sein. Zudem musste ich befürchten, dass wir bei weiteren DDR-Reisen mit noch unerfreulicheren Verhaltensweisen konfrontiert würden, weil die forcierte sozialistische Umgestaltung der DDR-Gesellschaft Derartiges erwarten ließ.