Elmar Dod

Tag der Erleuchtung

Kapitel 1

EIN UNHEIMLICHER GAST

war es, dem nichts ahnend ich die Türe geöffnet hatte, ein grobknochiger Kerl, der ungebeten und unaufhaltsam meine Wohnzimmerecke anmarschierte, sich fallen ließ in den knautschledernen Sessel und seine Körpermasse mir zudrehte: Ja, so sah er jetzt aus, schwammiger, doch durch die breiten Knochen unverwüstlich zusammengehalten, mein alter Freund Mahlgutt, den ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Sein Quadratschädel glänzte, in seine Mitte die Augen zu Schlitzen hineingezwängt, der Mund lachte und sprudelte die Geschichten der vielen Jahre hinaus, die ich mit Mahlgutt nicht hatte zusammen erleben dürfen.

»Lass uns heute ein paar Geschichten hören, Spiele spielen«, füllte seine sonore Stimme den Raum, »und damit dieser Abend nicht zu kopflastig wird - denn du musst ja diskutieren, alles infrage stellen wie damals -, habe ich zwei Damen eines Escortservice, Tina und Sina, für später bestellt, die uns nicht nur mit einem Sekt-Diner bedienen werden!«

Hinter Mahlgutts Kopf, der sich zu seinen Worten hin und her bewegte, sah ich durchs Fenster die Sonne über der Penn-Statue auf der City Hall im Abendglanz. Unbeweglich schwebte das Wahrzeichen Philadelphias über Mahlgutts unruhigem Kopf, der sich nun niederbeugte, um Tabak und Pfeifenutensilien aus der Tasche hervorzukramen, wie es sich für einen Geschichtenerzähler gehörte. Schon richtete er sich wieder auf, sistierte seinen Kopf ganz ruhig und genau unter die Penn-Statue, die vom rötlichen Glanz der untergehenden Sonne umgeben war, sein Blick fixierte mich und gebot Aufmerksamkeit. Und als er noch die Füße hochlegte auf meinen Couchtisch, schwarz glänzende Lackschuhe auf die orientalischen Intarsienmuster des Nussbaums, da war unmissverständlich klar: Er gab hier den Ton an, er hatte das Spiel angefangen, das heute Abend zu Ende gespielt werden sollte, die erste Seite in einem Buch aufgeschlagen, dessen Geschichte nun unweigerlich bis an ihr Ende ablaufen würde.

Mahlgutt stopfte umständlich seine Pfeife, während er zu erzählen begann, zuerst natürlich von der Zeit, die wir noch zusammen erlebt hatten, von gemeinsamen Tagen und Nächten als Studenten, von Diskussionen, Kneipenfröhlichkeit und den ersten Frauenbekanntschaften. Doch dann war er plötzlich verschwunden - ich erinnerte mich noch an die Lücke, die er hinterlassen hatte -, bis ein paar Briefe mich darüber unterrichteten, das er >das Leben studieren< wolle, den papierenen, kopflastigen Kram satt hatte, mit dem ich weiterhin mein Gehirn am Schreibtisch, in Seminaren und Büchereien mästete. So drückte er sich damals aus. Und als ob er das Vakuum, das er hinterlassen hatte, nachträglich ausfüllen wolle, erzählte er mir jetzt, was seine Tätigkeit in Afrika gewesen war, von der er in jenen Briefen nur andeutungsweise geschrieben hatte:

»Meine Gründung von Kinderdörfern in Liberia, im Kongo und Sudan konnte aus einem reichhaltigen Reservoir an Waisen schöpfen, unter denen zahlreiche Exemplare durch Verstümmelungen, Krankheiten und Verhaltensauffälligkeiten einen Bonus zur Erregung öffentlichen Mitleids vorweisen konnten. Ich entwickelte ein globales Netz von Büros, die Patenschaften mit diesen Kindern in die Industriestaaten vermittelten. Grafikbüros und Fotostudios erhielten Aufträge, in Afrika Bildmaterial herzustellen und aufzubereiten. Karten und Briefe wurden in alle Welt versandt, Fotografien des Elends verschickt, welche die Spendenwilligkeit von Millionen Menschen in den Industriestaaten förderten und für Geld ein gutes Gewissen, Selbstgerechtigkeit und das angenehme Gefühl boten, anderen durch Wohltaten moralisch überlegen zu sein. Für ein paar Dollar, Euro oder Yen konnte man ein solches Kind vor dem Hungertod retten, ihm Krücken oder künstliche Gliedmaßen verschaffen, gar seine Ausbildung in einer meiner Schulen ermöglichen, die freilich über den Entwurf auf dem Reißbrett selten hinausgelangten. Aber wer würde angesichts all des Elends, das ich ein wenig lindern half, und all derer, denen meine Organisation tatsächlich geholfen hat, über mich den Stab brechen? Das Geld war den im Überfluss lebenden Spendern leicht zu erübrigen, hier sinnvoll angelegt, auch wenn ein guter Teil davon auf die Konten meiner Organisation floss und sich dort anhäufte. Für die Waisenkinder wurden fremdländische Namen erfunden, die sich dennoch gut aussprechen ließen von den Deutschen, Engländern oder Japanern, welche die Antwortbriefe aus Schwarzafrika erhielten; in geübt ungelenker Schrift wurden sie von meinen Mitarbeitern geschrieben, die ich täglich in meinen Rundschreiben und Sendungen unserer Rundfunkstationen wie die Spender in dem Glauben bestärkte, letztlich - trotz aller vorläufigen Mängel meiner Organisation - einer guten Sache zu dienen. Da war beispielsweise die kleine pausbäckige Juliha, die wir für nur einen Euro gegen Masern geimpft hatten - inklusive Impfzubehör und Kühlmaterial; oder Tohom, der seine Ärmchen lebensfroh in die Lüfte reckte, graubraune Röhrchen, die ich ihm persönlich in einem Sanitätshaus in Birmingham besorgt habe - noch immer steht die lebensgroße Attrappe dieses Jungen dort im Schaufenster; oder Mahiri und Hessar aus Monrovia, zwei drei- und fünfjährige Schwestern, die nur noch Haut und Knochen waren, bevor sie an unserem Ernährungsprogramm teilnehmen durften, einem Test mit Genprodukten der Firma Food4us, die sie inzwischen zu prallen und drallen Teenagern hochgefüttert hat: Die kontrastreichen Fotos ihrer Entwicklung sind bestes Werbematerial und Fotoagenturen aus der ganzen Welt machen den beiden attraktiven Models aus Liberia bereits die verlockendsten Angebote.«

Mahlgutt studierte genüsslich die Wirkung seines Berichtes auf mich. Während er philanthropische Projekte in Schwarzafrika vorangetrieben hatte, war ich den viel betretenen Pfaden eines bildungsbürgerlichen Lebens gefolgt: Studium, Tätigkeit als Journalist, verschiedene Lehraufträge an Schulen und Universitäten, schließlich ein recht uneinheitliches Gemisch aus all solchen Tätigkeiten, das mir ein mäßiges Einkommen verschaffte und kaum geeignet war, mir selbst oder anderen das Gefühl einer unbürgerlichen Existenz zu vermitteln. Aber da war er, der kraftvoll die Bücher zugeschlagen, der in Afrika gewirkt, eine internationale Organisation gegründet und das Leben dort nicht nur gelebt, sondern zum Besseren verändert hatte:

»Schließlich drängten mich meine Erfahrungen zu neuen Gedanken, gründlicheren Nachforschungen. Jetzt glaubte ich, durch meine Erfahrungen in Afrika bereichert, wirklich studieren zu können. Vielleicht war es aber nur Langeweile, die sich ausbreitete, oder der Wunsch nach irgendetwas Neuem. Ein unbestimmter Drang also trieb mich zurück nach Europa. Es war die Zeit, in der du Post aus Hamburg von mir bekommen haben musst. Gewiss, unser Verhältnis war abgekühlt, nur wenige Dinge habe ich dir mitgeteilt, freundliche Phrasen sollten den Kontakt ein wenig aufrechterhalten. Aus irgendeinem Grunde scheute ich mich, gerade dir von dem wissenschaftlichen Projekt, das mich damals beschäftigte, zu berichten.

Ich begann an der Hamburger Universität eine Studie über >Die Spiritualität der Imagination< zu schreiben. Ich entwickelte die These, dass aus der Krise, ja dem Scheitern der Vernunft, das wir alle erlebt hatten, allenfalls die Imagination herausführen könne - nicht so sehr, weil ich diese These für richtig hielt, sondern eher weil ich zu einer These eine Antithese suchte, ein Gedankenspiel weiterspielen wollte. Vielleicht war es aber mein Unterleib, der meinem Kopf die Befehle gab, denn mein Doktorvater, für den ich diese Studie schrieb, hatte eine attraktive Tochter, und während also mein Unterleib sie begehrte, dachte sich mein Gehirn glänzende Argumentationsketten, geschmeidige Formulierungen aus, mit Zitaten und Fußnoten gespickt, sodass ich zu den wenigen vielleicht gehören dürfte, die Zutritt zur Privatwohnung des Professors erhielten, Yasmin sehen könnte: Sie begrüßte mich, wies mir den Weg zum Arbeitszimmer ihres Vaters, schenkte mir ein Lächeln, nahm vielleicht - und diese Hoffnung malte sich mein Gehirn über den Büchern, die ich zu meinem Thema studierte, immer wieder in den verschiedensten Variationen aus, die mein Verlangen steigerten - nahm endlich mein Angebot an, ins Theater zu gehen, ein Vorspiel zu beginnen, dessen Ende auszumalen ich mir während der konzentrierten wissenschaftlichen Arbeit an meiner Studie erfolglos zu verbieten versuchte. So begründete und entwickelte ich auf über einem halben Tausend Seiten meinen Kerngedanken, dass nur unsere Imagination in ihren Bildern eine neue Evidenz schaffen könne, die uns mit Vernunft ungläubig gewordene Wahrheitssucher zu überzeugen vermag, und bewies, dass nur unsere Imagination in ihren Symbolen uns Hinweise auf die Antworten geben kann, nach denen unsere letzten Fragen verlangen. Doch vielleicht war meine Studie nichts anderes als ein lang hingezogener Interruptus auf über 500 Seiten, mit dem ich mir die Wartezeit auf Yasmin vertrieb. Übrigens hatte ich dann tatsächlich ein paar schöne Erlebnisse mit ihr.«

Die riesige Statue William Penns zeichnete sich als großer dunkler Schatten in der hereinbrechenden Nacht ab. 360 Fuß hoch erhob sie sich über der City Hall, in trotziger zehnfacher Vergrößerung, nachdem das Denkmal vor Jahren durch ein Bombenattentat verwüstet worden war. Hell glänzte vor dem nachtverhangenen Fenster Mahlgutts Stirn, kleine Schweißperlen glitzerten auf ihr, und ich konnte nicht sagen, welchen Gefühlen in meinem alten Freund sie entstammten.