Joana Brouwer

Schein und Sein

PROLOG

Mittwoch, den 19. Oktober 2005

MALLORCA, TRAMUTANA GEBIRGE

Beatrix und Georg Ostermann waren um sechs Uhr aufgestanden und hatten allein in dem großen Speisesaal des Hotels gefrühstückt. Er hatte eine verächtliche Bemerkung über die Urlauber gemacht, die in den Betten lagen und schliefen, statt ihre Zeit sinnvoll zu nutzen. Sie hatte ihm schweigend zugesehen, wie er mehrere Brotscheiben mit Butter bestrich, abwechselnd Schinken und Käse auflegte, zwischendurch bei der Bedienung nach Obst und Folie verlangte, das Brot in die Folie wickelte, ihr eine Hälfte des Proviants über den Tisch schob und seinen Anteil im eigenen Rucksack verstaute.

Seitdem sie verheiratet waren, gehörten der Skilanglauf in den ersten Wochen des Jahres, der Segeltörn im Sommer und der Wanderurlaub im Frühherbst zu einem festen Ritual.

Beatrix hatte diese Freizeitbeschäftigungen ebenso wenig infrage gestellt wie die fünfzehn Wanderregeln, die sich aus zehn Grundregeln und fünf persönlichen Statuten zusammensetzten.

Schon beim Aufstehen, als sie ihn unter der Dusche pfeifen hörte, war ihr der Gedanke gekommen, gegen eine seiner Grundregeln zu verstoßen, sich auf die andere Seite zu drehen, weiterzuschlafen, seine Anwesenheit zu ignorieren und den Tag ganz anders zu gestalten.

Hätte sie ihrem Wunsch nachgeben, würde sie jetzt nicht seit sechs Stunden hinter ihm herlaufen, auf allen vieren kriechen oder klettern, je nach der Beschaffenheit des Erdbodens unter ihren Füßen.

Sein aschblondes Haar war am Hinterkopf sehr licht geworden in den letzten fünfzehn Jahren, seine Schultern runder. Ab und zu blieb er unwillig stehen, drehte sich zu ihr um, schüttelte missbilligend den Kopf oder hob einen seiner langen Arme und trieb sie damit winkend zur Eile an.

Ihre rechte Ferse schmerzte seit mindestens einer halben Stunde, aber über die Blasen an ihrem Fuß wollte sie sich nicht beklagen. Schließlich hatte sie gegen eine der zehn Leitregeln verstoßen. Gegen die Regel Nummer eins meines Herrn, dachte sie spöttisch: Trage niemals auf einer längeren Wanderschaft neues Schuhwerk, Beatrix.

Vor vielen Jahren hatte er sie Bea genannt. Doch: Trage niemals auf einer längeren Wanderschaft neues Schuhwerk, Bea, war ganz und gar nicht eindrucksvoll. Bea klang zu weich, zu zärtlich. Der Kosename stellte die Ernsthaftigkeit seiner Grundsätze infrage und ihm lag daran, dass seine Vorschriften nicht im Geringsten ins Wanken gerieten.

Obwohl der Verstoß gegen die Regel Nummer eins keine schmerzhaften Auswirkungen gezeigt hätte, wäre ER mit dem Statut zwölf gewissenhaft umgegangen, schoss es ihr durch den Kopf. Nummer zwölf besagte: »Die Wanderroute bestimmen wir abwechselnd, Beatrix.« Heute war sein Routentag. ER hatte gewählt, ER hatte die Entfernung und die benötigte Zeit falsch eingeschätzt, ER hatte sich verirrt, ER war nicht in der Lage, die Karte und die Hinweise zu lesen. Wäre ER dazu imstande, säßen sie seit einer Stunde in ihrem Leihwagen und ihr Fuß würde sie nicht peinigen. Sie wollte augenblicklich gegen die Vorschrift dreizehn verstoßen, den Rucksack abstreifen, sich auf einen Felsvorsprung setzen und eine Pause einlegen.

Georg bemerkte erst nach einigen Minuten, dass sie ihm nicht länger folgte und machte seinem Unmut Luft: »Ich habe die Route ausgesucht und daher bestimme ich, wann wir eine Rast einlegen, Beatrix! Ich habe mir, genauso wenig wie du, vorstellen können, dass im Oktober auf Mallorca die Sonne in dieser unangenehmen mörderischen Weise brennt. Du hast in diesem Jahr das Urlaubsziel auserkoren. Ich wäre ohnehin lieber in die Schweizer Alpen gefahren.«

Die Bestimmung des Wandergebietes, Regel Nummer elf. »Abwechselnd, Beatrix. In dem einen Jahr du...«

Bla, Bla, Bla, du Wichtigtuer, spottete sie im Stillen, vernahm ihn sprechen und ignorierte das Gesagte.

Er hatte sich irgendwann angewöhnt, die letzten beiden Buchstaben ihres Rufnamens zu betonen und gab ihm damit einen harten Klang, der in ihren Ohren schmerzte. »Bea, die Beglückende, die mich Beglückende«, hatte er häufig geflüstert, nachdem sie sich geliebt hatten. Das war vor tausend Jahren gewesen.

Sie waren am Stausee Gorg Blau aufgebrochen. Er hatte eine Rundroute gewählt, die sie nach vier Stunden zu ihrem Ausgangspunkt zurückführen sollte. Wäre er nicht von ihr abgewichen, hätte er sich nicht verirrt, und sie meinte zu wissen, wo er den falschen Abzweig genommen hatte.

Sie war ihm vertrauensvoll gefolgt, obschon ihr aufgefallen war, dass die Himmelsrichtung auf keinen Fall stimmen konnte. Diesem Deppen mit seinen langen Beinen war sie heute das letzte Mal hinterhergetappt.

Die Ortschaft im Südwesten, auf der gegenüberliegenden Seite des Tals vor ihren Füßen, konnte nur Orient sein. In dem Dorf gab es ein Telefon, von dort aus würde sie sich ein Taxi bestellen und sich zu dem Hotel in Can Picafort fahren lassen.

Von ihrem Sitzplatz aus gewahrte sie die Serpentine, die sich wie ein schmales Band den Berg hinabschlängelte. Ein weißes Cabrio zeigte sich einen Moment lang auf der Fahrbahn, verschwand auf der kurvigen Bergstraße aus ihren Augen und tauchte eine kurze Weile später erneut auf.

Beneidenswert, sann sie, keine schmerzenden Füße in schweren Schuhen, kein verschwitztes T-Shirt, das an dem Oberkörper klebt, stattdessen ein sanfter Luftzug, der das Gesicht liebkost. Die nackten Füße in luftigen Sandalen, eine weiße Chiffonbluse, dazu einen kurz geschnittenen Rock.

Den nächsten Urlaub wollte sie allein verbringen. Nach Lust und Laune schlafen, schwimmen und wandern, wann es ihr beliebte. Bücher lesen, die sie mochte. In der Nacht an einer Bar sitzen, farbige Cocktails mit einem Schuss Alkohol trinken, sich ein schickes Cabrio mieten, ohne Ziel durch die Gegend fahren, geradeso wie die Frau in dem Fahrzeug auf der Serpentine. Es musste eine Fahrerin sein, die das Auto lenkte. Beatrix schloss es aus dem langen blonden Haar, das sich im Fahrtwind bewegte und aus dem bunten, großflächigen Schal, den sie wie eine Fahne flatternd hinter sich her zog.

Sie folgte dem Auto mit ihren Blicken, sah die Fahrerin die Kurven vorsichtig und langsam nehmen, ohne Eile hinter einem Hügel verschwinden und plötzlich, mit rasender Geschwindigkeit, abermals in ihrem Blickfeld auftauchen.

Beatrix hörte das Quietschen der Reifen und bemerkte gleichzeitig einen blauen Geländewagen dicht hinter der Stoßstange des Cabrios. Sie sprang mit klopfendem Herzen auf, starrte auf die Straße, beobachtete, wie der Geländewagen schneller fuhr und mit einem knirschenden Geräusch gegen das Heck des Cabrios stieß. Wiederholt, in fast gleichem Rhythmus, abbremsen, Gas geben, auffahren, rums.

Beatrix schrie den Namen ihres Mannes und zeigte auf die Straße. »Man bringt sie um! Man will sie in den Abgrund stoßen!«

Kaum dass sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, sah sie das Cabrio die Leitplanken durchbrechen. Es überschlug sich einmal und verschiedene bunte Gegenstände segelten durch die Luft. Sie nahm einen dumpfen Aufprall wahr, registrierte im selben Moment, dass der Geländewagen mit aufheulendem Motor davonfuhr.

»Gib mir das Fernglas, Georg! Gib mir auf der Stelle das Fernglas! Vielleicht gelingt es mir, das Nummernschild des blauen Fahrzeuges zu erkennen!«, schrie sie.

»Du bist verrückt«, hielt er ihr gleichmütig vor. »Das Glas liegt zuunterst in meinem Rucksack. Bis du es in den Händen hältst, ist der Wagen zu weit entfernt. Obendrein spinnst du! Ich habe keineswegs gesehen, dass sie von der Straße gedrängt wurde. Es war ein Unfall. Kein Wunder, wie die gerast ist. Komm endlich, Beatrix. Es ist ohnehin spät.«

»Du willst die Wanderung fortsetzen, als sei nichts Besonderes geschehen? Willst nicht bis zur Unfallstelle absteigen und dich vergewissern, ob Verletzte auf unsere Hilfe angewiesen sind?«, fragte sie entsetzt.

»Es ist nichts Besonderes geschehen. Auf den Straßen im Gebirge verunglücken täglich Menschen und kommen zu Tode.«

Sie hob ihren Rucksack auf, musterte ihren Mann ausgiebig, den schlaksigen Körper, das gerötete Gesicht, die spöttisch nach unten gezogenen Mundwinkel, das schüttere Haar, sein verschwitztes Oberhemd.

Er drehte ihr seinen Rücken entgegen und setzte sich rasch, mit weit ausholenden Schritten, in Bewegung.

»Beeile dich, Beatrix!«

Ich darf keine Zeit verlieren, beschloss sie. Jede Minute zählt, deswegen nehme ich nur das Wasser mit. Der Rucksack behindert mich, ohne Gepäck bewege ich mich schneller. Ich richte mich nach der Sonne und verlasse mich auf mein Gefühl. Die dicke hohe Steineiche dort hinten, nehme ich als Wegweiser. Das verunglückte Fahrzeug müsste dicht daneben liegen.

»Beatrix!«, brüllte er eine Weile später, als sie in entgegengesetzter Strecke den Abstieg in Angriff genommen hatte und sich rückwärts, die Hände am Boden, durch das dichte Unterholz nur mühsam abwärts bewegte.

»Wenn du nicht augenblicklich zurückkommst, will ich dich keinesfalls mehr wiedersehen, dann ist Schluss, Beatrix!«

Es ist seit Langem zu Ende, urteilte sie hoffnungslos, ich habe es nur nicht wahrhaben wollen.

Nach einiger Zeit, kurz bevor sie einen abschüssigen Trampelpfad entdeckte, erblickte sie ein Rettungsfahrzeug und einen Polizeiwagen auf der Serpentine. Das Wrack des Cabrios lag einige Meter unterhalb der Straße, mit der Fahrerseite an einen Baum gepresst.

Sie folgte dem Trampelpfad, kam jetzt schneller voran und wusste, als sie die, mit einem weißen Tuch verhüllte, angeschnallte Gestalt auf der Trage sah, die von zwei Männern bergauf transportiert wurde, dass die Frau, die sie vor kurzer Zeit um ihr Auto beneidet hatte, gestorben war.

Beatrix richtete ihren Blick fortan vor sich auf den Boden und vermied es hochzusehen. Sie entdeckte wenig später ein Päckchen vor ihren Füßen, eingewickelt in rosa Geschenkpapier und hob es auf. Mit einem schwarzfarbigen Filzstift hatte irgendjemand die Vorderseite, unterhalb der rosa Schleife mit >Pia< beschriftet. Mit dem Päckchen in der Hand ging sie weiter, fand seitlich des Weges eine bunt gestreifte Basttasche, einen leeren Schuhkarton ohne Deckel, eine inhaltslose Einkaufstüte vom Kaufhaus El Corte Ingles und ein blaues Paket, wiederum mit einem Namen beschriftet. Sie bückte sich jedes Mal nach den Dingen der Toten vor oder neben sich und war bemüht, ihre Tränen zurückzuhalten, sobald sie einen Gegenstand anfasste.

Als sie die Serpentine endlich erreichte, waren der Polizei- und der Rettungswagen bereits fortgefahren. Beatrix legte die Basttasche neben der zerstörten Leitplanke auf den Boden, setzte sich auf die Straße, legte den Kopf auf ihre Knie und weinte.


Zur selben Zeit erhielt eine Patientin in einem privaten Hamburger Pflegeheim einen üppigen Strauß weißer Nelken.