Rudolf H. Peters

Der Tröster


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1959 machte ich in Berlin mein Abitur. Ich hatte zuerst keine Vorstellung, was ich studieren sollte, nahm aber dann die Naturwissenschaften aufs Korn in Verbindung mit Pädagogik. Nach vier Jahren war ich bereits fertig mit dem Studium. Trotz meiner aufwändigen Nebenbeschäftigung mit einer der schönsten Künste, die es gibt. Der Musik. Weil ich als Student in die Partei eintrat, deren Linie mir am meisten zusagte, bekam ich dann auch gleich 1964 eine Stelle als Mathematik- und Physiklehrer an einer Ostberliner Schule, die ihre Zöglinge bis zur 12. Klasse und damit zum Abitur führte.

Mit den Mädchen hatte ich es damals nicht so sehr. Die Stimme hätte darunter leiden können. Der berühmte Gesanglehrer, der zum Nachwuchsstudio der Deutschen Staatsoper gehörte und bei dem ich studieren durfte, gegen angemessene Bezahlung natürlich, der hatte mir gesagt: "Sie sind Tenor. Und vor allem Tenöre dürfen ihre Kraft nicht vergeuden. Wenn ich vor dem für mich wichtigsten Tag meines Lebens, als ich bei der Uraufführung des >Rosenkavalier< in Dresden unter der persönlichen Leitung von Richard Strauß den Sänger geben durfte, dieses sagenhaft schwere Stück, wenn ich mich da am Abend vorher mit einer Frau abgegeben hätte, dann wäre mir der Komponist für den Rest meines Lebens böse gewesen. Also ein letztes Mal: Wenn Sie es zu toll mit den Mädchen treiben, dann können Sie nicht singen. Nicht so singen, dass es dem Publikum gefällt."

Da bekam ich gehörig Angst. Das Gesangstudium war mir allemal wichtiger als die Eroberung einer überaus attraktiven Dame. Wäre es doch dabei geblieben! Es reichte eigentlich schon, dass die Mädchen um mich herumstrichen wie läufige Katzen und mich anhimmelten.

Dann kam die unerwartete Nachricht, ich hätte eine Tante in Schweden. War wohl nur eine Kusine oder eine in der Genealogie noch nachrangerigere Verwandte meiner Mutter. Es kann sein, so denke ich nunmehr aufgrund meiner reichhaltigen Erfahrungen, diese Tante ist erschaffen worden. Auf dem Reißbrett. Es gab sie in Wirklichkeit gar nicht. Man griff auf eine Eingeweihte in Schweden zurück, vielleicht auf eine ehemalige kommunistische oder sozialdemokratische Emigrantin und instruierte sie, was sie tun sollte, wenn einmal ein junger Mann aus Berlin auftauche und sie zu sprechen wünschte.

Einem Kommilitonen erzählte ich davon so ganz beiläufig. Und der muss es wohl weitergetratscht haben, das mit dem Tantchen. Falls diese keine Erfindung bestimmter Leute war. Leute einer bestimmten staatlichen Institution, die ein besonderes Interesse an solchen Informationen hatten, wenn sie nicht von ihnen selbst kamen.

Ich war damals total uninformiert, was es so alles gab auf diesem Sektor. Konnte mir absolut nicht vorstellen, dass die Liebe, oder was man dafür vorgibt, eine Rolle spielen könnte bei der Auslandsinformation. Beileibe hätte ich nie daran gedacht, es gäbe Spezialisten, die bei Personen, auf deren Kenntnisse und Faktenzugänge man scharf ist, mit ihren mentalen und sexuellen Fähigkeiten aufwarten und diese ins Feld führen. Schönheit, Charme, Intellekt und Liebeskunst dafür ausgenutzt werden, einen Menschen auf arglistige Weise hinters Licht zu führen und damit in eine rechtliche Schieflage zu bringen. Denn in jedem Land gibt es andere Gesetze. Aber überall einen Paragrafen, der Landesverrat unter erhebliche Strafe stellt.

Die Spezialisten, die Menschen mittels der Liebe einfangen, die sind zweierlei Geschlechts. Immer denkt man, nur Männer täten so etwas. Man nennt sie übrigens Romeos. Die schmachtenden Jünglinge aus der shakespearschen Gedankenwelt, von denen einer in der Zeit der Renaissance auf einen hoch gelegenen Balkon in Verona sprang, um seiner Angebetenen zu Füßen zu sinken. Jünglinge, die in Prokofjews Ballett anmutig ihre Füße setzen. Und heute in dieser schändlichen Welt nur so tun, als ob sie vor Liebe zerflössen. In Wirklichkeit jedoch unlautere Absichten haben.

Es gibt nicht nur die Romeos. Es gibt auch schöne Frauen, nennen wir sie der richtigen Zuordnung halber ruhig Julias, die tun und taten dasselbe. Gewöhnlich nennt man Damen, die ihre Liebe verkaufen, ganz einfach Huren oder Nutten. Wenn hingegen eine Frau gezielt mit einem Mann schläft, um von ihm zum Beispiel zu erfahren, wie man an ein bestimmtes Dokument herankommt und dafür kein Geld nimmt, sondern die besonderen Informationen vorzieht, was ist dann eine solche Frau? Darf man sie Hure nennen? Oder ist sie eine Julia, eine ausgekochte Spezialistin auf dem Sektor der Auslandsinformation, um diesen graziösen Begriff noch einmal zu gebrauchen?

Man sollte es unbedingt tun. Man sollte es sagen. Mit großer Herzlichkeit: Julia, wer immer du bist und welchen Vornamen du hast, du bist und bleibst eine verdammte Hure!

Und du Romeo. Du bist kein Held, kein Meister der Aufklärung. Du bist ein verdammter Hurenbock! Ein besserer Zuhälter!

Eines Tages, nachdem ich die schwedische Tante schon vergessen hatte, die danach irgendwann pflichtgemäß eine Ansichtskarte schrieb, um sich wieder in Erinnerung zu bringen, da kam die Kommilitonin Christa auf mich zu. Meine auf mich angesetzte Julia. Eine Pfarrerstochter aus Sachsen, deren gepflegter Dresdner Akzent sich in der schnodderig gestimmten Berliner Klangwelt merkwürdig ausnahm. Aber Sachsen gab es genug bei uns damals. Sächsisch konnte man überall hören in Ostberlin. Nicht nur bei dem obersten Repräsentanten des Staates, der mir mein Studium ermöglichte, wie die herrschende Arbeiterklasse oder einige ihrer Vorturner so sagten. Wenn Studenten ihrer Meinung nach zu frech wurden. Wenn sie nicht genügend Dankbarkeit den Arbeitern gegenüber zeigten, die ihnen angeblich ihr Studium finanzierten. So ein hanebüchener Stuss! Als wenn mein Kopf hierfür nicht viel wichtiger gewesen wäre. Für das Studium der Mathematik und der Physik.

Pfarrerstöchter sollen besonders geil sein, behaupten die Kenner. Nicht nur die linksrheinischen, auch die sächsischen Pfarrerstöchter. So geil, dass sich bereits die Bettgestelle biegen, wenn sie in deren unmittelbare Nähe kommen. Auf diesem Sektor war ich damals alles andere als ein Kenner. Jedenfalls verstand es das Luder, mich so in Anspruch zu nehmen, dass mein berühmter Gesanglehrer beinahe erwog, mich als hoffnungsvollen Schüler fallen zu lassen. Obwohl ich ganz ordentlich sang und einige Fortschritte gemacht hatte. Ich galt vor allem als Hoffnungsträger, weil sich mein Lehrer vorstellen konnte, wie ich mit meinen 1,90 Meter Körpergröße aussähe, würde man mich dereinst in das Kostüm des Herzogs von Mantua im >Rigoletto< hüllen. Mein männlich schönes Gesicht noch verzieren mit einem Bart, wie ihn die Renaissance-Fürsten seinerzeit trugen. Wenn ich dann das "Ach wie so trügerisch" parlierte und den leichtsinnigen Weiberhelden gäbe, den ich allerdings nur vortäuschen durfte, wenn es nach dem berühmten Kammersänger ging.

Christa war schon eine Sünde wert. Eine Pfirsichhaut. Aber Zigarettengeruch bis in die Unterwäsche hinein. Jedenfalls wird sie erreicht haben, was sie bezweckte. Dem Karlchen, also mir als jungem Kerl auf den Zahn zu fühlen. Des Karlchens sexuelle Leistungsfähigkeit zu testen. Herauszubekommen, wie er es tat bei der Liebe und ob man ihm rasch das Nötige beibringen könne, was er darüber hinaus brauche. Diesem Anfänger, dieser Mimose, der ständig wegen seiner Stimme herumjammerte.

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Ach, ich vergesse ja völlig den Beobachter da drüben. Der trinkt jetzt weniger. Das hier angebotene Bier scheint ihm nicht mehr so zu schmecken. Der guckt nun kaum zu mir herüber.

Der Beobachter hatte genug gesehen. Er hatte genug für heute. Er hatte die Nase voll. Er hatte ebenso den Bauch voll. Voller Flüssigkeit, die ihm den Kopf zu vernebeln begann. Es machte ihm Mühe, sich weiterhin auf das Objekt seiner Beobachtung zu konzentrieren.

In den letzten Minuten war der elegante und etwas müde wirkende Mann, hinter dem er seit drei Wochen her war, in einen seltsamen Dämmerzustand verfallen. Das vor ihm stehende Bier rührte er kaum an. Dafür kippte er einige Schnäpse.

Er ist jetzt beinahe geistesabwesend, wie ich sehe, konstatierte der Beobachter. Ab und zu schneidet er Grimassen. Gelegentlich bewegen sich seine Lippen, als ob er Selbstgespräche führe. Der scheint mit sich zu kämpfen. Oder mit irgendjemandem in Gedanken heftig zu streiten. Ich werde bezahlen und mich aus dem Staub machen. Nach Jülich zurückfahren, wo ich wohne. Ich weiß zwar nicht, wo dieser Dr. Heller wohnt. Ihm heimlich zu folgen, bis ich weiß, wo er sich dauerhaft aufhält, das ist mir jetzt zu anstrengend. Ich habe wohl zu viel Bier getrunken. Wenn ich eventuell meinem Mann zu Fuß folgen muss, was soll ich dann machen, wenn ich immer wieder meine Blase entleeren muss. An solche Dinge sollte man vorher denken. Der Mann, den ich so in mein Herz geschlossen habe, der wird ja wohl im Telefonbuch stehen.

Nachdem er beim Kellner sein Geld losgeworden war, über die Höhe der Zeche wunderte er sich ein wenig, ging er betont ruhig hinaus. Er wollte ja nicht zeigen, dass sein Schritt unsicher war, beinahe schwankend. Einen schönen Verfolger würdest du abgeben, kamen Zorn und Erheiterung in ihm auf. Gesetzt den Fall, das Objekt meiner Beobachtung nähme ein Taxi, dann bedeutete meine Benommenheit ein gleich großes Handikap, als wenn ich zu Fuß hinter ihm her liefe. Bis ich einem zweiten Taxifahrer die klassischen Worte sagen würde: "Fahren Sie diesem Taxi in gebührendem Abstand hinterher, und zwar so, dass wir dessen Spur nicht verlieren", würde wohl eine geraume Zeit vergehen. Dann wäre Heller bereits über alle Berge davongeeilt.

Als er den sich jetzt merklich füllenden Schankraum verließ, da streifte er ihn mit keinem Blick. Der Mathematiker, inzwischen aus seinen Erinnerungen gerissen, sah ihn kurz draußen durch die Butzenscheiben der Gaststube sich mit unsicheren Schritten davonmachen. Der Mann war bezecht. Betrinkt sich ein Beobachter, der beharrlich bestimmten Menschen hinterherläuft? So fragte er sich. In der Praxis kam das ganz selten vor. Ich werde den Typ Menschen, der mir dieses Rätsel aufgibt, in mein Gedächtnis einspeichern. Ob der seit Langem hinter mir her ist? Ob ich den bisher nur nicht bemerkte? Für die Zukunft werde ich auf jeden Fall gewappnet sein. Irgendwie, so sagt mir mein Instinkt, geht von dem Mann eine Bedrohung für mich aus. Hätte ich vielleicht nicht besser daran getan, den Stier bei den Hörnern zu packen? Meinen Bierdeckel und mein Glas zu ergreifen und an seinen Tisch zu gehen und zu sagen: "Gestatten Sie, ist hier bei Ihnen am Tisch ein Platz frei? Ich habe keine Gesellschaft an meinem leeren Tisch. Wir könnten uns möglicherweise ganz gut unterhalten. Über Ihre Wünsche, Ihre Absichten, Ihre Sorgen. Ich habe so das Gefühl, ich könnte Ihnen helfen. Denn, nehmen Sie es mir nicht übel, ich habe den Eindruck, dass Sie mir hinterherlaufen, seitdem ich Sie an der Universität erblickte. Eventuell kennen wir uns von früher, obwohl ich vergebens mein Gedächtnis martere und bis jetzt nicht weiß, wo ich Sie hintun soll."

Was wäre da wohl als Antwort gekommen? Das Gespräch hätte spannend werden können. Möglich war auch, der Mann entpuppte sich als Langweiler und ich gab mir vergebens Mühe, ihn irgendwie aus der Reserve zu locken. Nun ist er fort. Ich brauche mich um ihn nicht mehr zu kümmern. Ich bleibe eine Weile hier sitzen, um weiter meinen Erinnerungen nachzugehen, die durch den Mann und seinen Weggang gerade unterbrochen wurden. Es ist ja wohl ein gewaltiger Irrtum, sich einreden zu wollen, man könne seine Vergangenheit verschwinden lassen, wie ich das vor meinem Einstellungsgespräch vorhatte. Es gibt hierfür keine Kammern und Verliese, in denen sie sich aufhebt. Die Erinnerung gelangt immer dort hinein. Macht die Vergangenheit wieder lebendig. Nur der Tod löscht jedes Erinnern. Überlässt die Vergangenheit dem Urteil der Nachwelt.

Nein, Kommando zurück. Ich habe genug getrunken. Der Schnaps hat mich erwärmt. Ich muss ja später, nachdem ich noch eine Weile geblieben bin, dann nicht so schwankend hinausgehen, wie der Mann soeben. Ich werde zu Fuß nach Hamm laufen bis in die Pension. Das ist ein Spazierweg von knapp einer Stunde. Der Wind geht heute nicht so heftig. Er weht zwar von der Rheinseite her über die Stadt. Aber meine Frisur wird nicht allzu sehr durcheinander geraten.

"Kellner, zahlen bitte!"

Er sagte nicht wie üblich: Köbes. Hierfür war er nicht genügend Düsseldorfer. Und das war ihm zu sehr der Jargon von der fiesen Sorte. Und er war bekanntlich ein vornehmer Mensch, der den Jargon und alles Fiese dieser Welt verachtete. Nur sich selbst nicht.

"Bitte, der Herr."

Auf dem Zettel stand die Summe von ungefähr sechzig Mark. Verdammt teuer dieser >Uerige<. Und in seinem keinesfalls verrauchten Ärger über die Unbill des Tages ließ sich der Gast das Rückgeld auf Heller und Pfennig aushändigen. Und die Dame, die so gern das Lied vom Tröster sang, wie man bereits weiß, sie sang - trotz ihrer nicht sehr schönen Stimme - gelegentlich bei besonders guter Laune das Vagantenlied: "Ein Heller und ein Batzen, sie waren beide mein, ja mein. Der Heller ward zu Wasser, der Batzen ward zu Wein."

Der Heller gehörte ihr, war ihr Eigentum, bildete sie sich zumindest ein, obwohl sie wusste, er könne sich in Wasser, in einen ganz gewöhnlichen Stoff verwandeln. Von dem man dann nicht so viel mehr hatte, als sich einmal die Füße damit zu waschen. Und dann war das Wasser dreckig und musste weggegossen werden.

Gleich auf dem Teil der Altstadtgasse angekommen, an welcher der >Uerige< lag, lenkte Heller seine Schritte zuerst gemächlich in Richtung Rathaus, um an dem Denkmal des Jan Wellem vorbeizugehen. Dann sah er schon den alten Schlossturm, das Wahrzeichen der Stadt. Hier war zur Karnevalszeit der Teufel los. Und als gebildeter Mensch wusste er, als er Grupellos Reiterstandbild des Kurfürsten von der Pfalz wieder einmal mit Vergnügen in Augenschein nahm, wie knapp zweihundert Jahre zuvor der muntere Knabe Heinrich Heine anlässlich des Einrückens Napoleons in Düsseldorf auf das eherne Ross gestiegen war, um den Korsen zu begaffen. Dann hilflos an dessen Hals hing, am Hals des Bronzepferdes und sich nicht mehr herunter getraute, weil er einen jähen Absturz in eine gefährliche Tiefe fürchtete. Aber man hatte dem leichtsinnigen Kinde heruntergeholfen auf das sichere Pflaster des Marktes. Damit blieb ein dichterisches Genie der Nachwelt erhalten.

1968 hatte sich Heller mit Inbrunst in das Karnevalsleben geworfen. Welch schöner Gedanke! Welch schöner Rückblick! Das Karussell der Erinnerung, in der Gaststube in Bewegung gesetzt, konnte sich endlich weiter drehen. Noch war er ja nicht fertig mit dem Zusammensuchen der wichtigen Details seiner Vergangenheit. Gott sei Dank, der lästige Mensch lief nicht hinter ihm her.

Wie war das, als Julia, alias Christa, endlich von ihm abließ? Da trat er sein Amt als frisch gebackener Lehrer an. Unterrichten erwies sich nicht als so grauenvoll, wie das mancherorts dargestellt wurde. Er stand nicht vor Hilfsschülern, zu denen man besonderen Zugang brauchte. Er hatte es nicht mit Berufsschülern zu tun, dem Albtraum jedes Lehrers, die oftmals selbst unter sozialistischen Bedingungen faul und renitent waren und offen im Unterricht die DDR madig machten mit deren von ihnen so benannten Unfreiheit und ihrer organisierten Langeweile. Er betrat Klassenzimmer, in denen brave Schülerinnen und Schüler saßen, die nahezu blind vor Ehrgeiz und dem auf sie übertragenen Geltungsbedürfnis ihrer Eltern in Ruhe ihr Abitur machen wollten. Um später zu studieren, einen geachteten Beruf zu ergreifen, zur Elite zu stoßen, die es in der DDR so oder so auch gab. Und nicht nur um die Parteielite ging es. Die war ohnehin bei vielen fragwürdig. Die geistige, um nicht zu sagen die moralische Elite, die lebte und existierte ebenso im sozialistischen Musterland, zu der wollte man gerne gehören. Wenn man schon nicht im Westen leben durfte.

Er kam gut zurecht mit seinen Schülern. Er verstand sein Handwerk. Und viele seiner Schülerinnen verliebten sich unsterblich in ihn. Hatte der Mann auf einer Schulfeier sich doch nicht gescheut, gemeinsam mit dem Musiklehrer Erwin Krüger Musik von Mozart zu singen. "Dies Bildnis ist bezaubernd schön", sang er voller Schmelz und mit großer Anmut. Warum geht der Mann nicht zur Bühne, fragte sich mancher der Kollegen und der anwesenden Eltern.

Mit dem Musiklehrer war er jetzt öfter zusammen. Er ging mit ihm in die Komische Oper, in die Staatsoper, wo er, Erinnerungen dieser Art sind immer schön, als Student im Extrachor sang. Er merkte nicht, dass sich der Mensch ihm förmlich aufdrängte. Wie jemand aus der durchaus nicht geringen Zahl der Männer, die schöne Männer bewundern und nicht schöne Frauen. Die sich in besonders anmutig geschwungene Wimpern von Männergesichtern vergucken können und keinen Blick dafür haben, dass Frauen ebenfalls schöne Wimpern besitzen, wenn sie nicht künstlich sind.

Eines Tages, sie befanden sich in einem Konzertsaal, sagte der Kollege Krüger in der Pause so ganz beiläufig: "Kollege Heller, haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Tante in Växjö? Oder kommt da nichts zustande außer einem gelegentlichen Kartengruß?"

Heller stutzte. Hatte sich das im Kollegium herumgesprochen, dass er entfernte Westverwandtschaft hatte? Das kann unmöglich sein, sagte er sich. Ich trage nicht das Herz auf der Zunge. Und mit einer schwedischen Tante so ein wenig anzugeben, das ist überhaupt nicht mein Stil.

Misstrauisch geworden gab er zurück: "Kollege Krüger, ich kann mich nicht erinnern, Ihnen jemals so etwas angedeutet oder erzählt zu haben. Ich weiß doch, offiziell wird es nicht gern gesehen, wenn man Kontakte zu Verwandten ins westliche Ausland pflegt. Ich bin nicht nur ein vorsichtiger Mensch, der keinen Ärger haben möchte. Ich bin auch ziemlich gleichgültig, was Westeuropa und die übrige Welt angeht. Die Musik ist mir wichtiger."

"Seien Sie nicht gleich so kratzbürstig. Sie irren, wenn Sie meinen, man wisse im Kollegium nicht davon, wie das mit Schweden ist. Sie wissen, wie die Leute sind. Man unterstellt beinahe jedem, der eine Tante im Westen hat, er bekomme von der in regelmäßigem Abstand Pakete geschickt. Pakete mit preiswertem Kaffee und Puddingpulver aus den dortigen Billigläden."

Heller war nicht überzeugt. Wusste man wirklich davon, dass es gelegentliche Kontakte zu Schweden gab? Oder hatte der Krüger das einfach nur so behauptet. Um ihn auf die Probe zu stellen? Es wäre eventuell besser, ich gehe künftig allein ins Konzert. Dann brauche ich mir so etwas nicht anzuhören. Das können Provokationen sein.